George Orwells »1984« in einer neuen Bühnenfassung - Gießener Allgemeine Zeitung

15.11.2015

»Big Brother is watching you« kreischt Beatrice Boca. Was George Orwell schon 1948 in seinem Roman »1984« prophezeite, ist für uns längst Realität. Im Stadttheater hatte nun die Bühnenfassung von Robert Icke und Duncan Macmillan Premiere – an einem denkwürdigen Abend und in einer zwiespältigen Inszenierung.

 

Wir haben 1984 überlebt, ohne dass die von Orwell schon 1948 prophezeite Schreckensvision eines totalen Überwachungstaates für uns erkennbar geworden war. Doch spätestens seit Whistleblower Edward Snowdon und der NSA-Affäre wissen wir: Big Brother ist watching us. Wie sieht es also nun mit unserer Zukunft aus? Diese Frage thematisieren die Briten Robert Icke und Duncan Macmillan in ihrer Bühnenfassung des Romans, die am Samstagabend in der Inszenierung von Thomas Oliver Niehaus im Stadttheater Premiere hatte, und verlegen die Handlung in das Jahr 2050.

Am Tag nach den Anschlägen von Paris hinterließ der Abend einen ganz besonders bedrückenden Eindruck. Sätze wie »Da draußen sind welche, die die Freiheit hassen«, die dem fiktiven Staat Ozeanien als Rechtfertigung für die Überwachung seiner Bürger dienen, hört man an einem solchen Abend mit ganz neuen Nuancen. Schließlich hat Europa gerade wieder erfahren müssen, was totalitaristisches Denken und Fanatismus anrichten können. Da blieb der Applaus am Ende der Vorstellung vielleicht auch deshalb bemerkenswert zurückhaltend.

Die Bühnenfassung ergänzt Orwells erschreckende Zukunftsdystopie eines totalitären Staatsapparates um eine auf dem Romananhang basierende Rahmenhandlung, die klären soll, was der Roman für uns heute noch bedeuten kann und wer ihn eigentlich verfasst hat. Zu Beginn und am Ende der fast zweistündigen pausenlosen Vorstellung diskutieren die Schauspieler an einem langen Tisch im Bühnenvordergrund. Das eigentliche Geschehen um Winston Smith, der sich mit dem Niederschreiben seiner Gefühle in einem Tagebuch der Gedankenpolizei widersetzt und am Ende gnadenlos scheitert, spielt auf einem Bühnenpodest im Hintergrund. Spätestens bei dieser verkopften Konstellation ist klar: Hier sind Theaterwissenschaftler am Werk. Fragestellungen im Stil von »Was will der Autor uns damit sagen« sollen das eigentliche Stück ergänzen. Aber ist ein solcher Interpretationsmechanismus überhaupt nötig? Trauen Icke und Macmillan Orwells Vorlage nicht genug zu? Erleichtern die Diskussionen im Stile eines Germanistik-Seminars den Zuschauern tatsächlich das Verstehen der Problematik oder versperrt der akademische Deutungsversuch nicht vielmehr das wahre Begreifen? Hier scheinen Zweifel zumindest angebracht.

Was bleibt, ist eine eindrückliche wie strapaziöse, ästhetisch ansprechende Inszenierung. Lukas Noll hat den dunklen Bühnenraum mit schwarzem Glitzervorhang und dem bereits erwähnten Podest und Konferenztisch sparsam eingerichtet, Kostümbildnerin Veronika Stemberger setzt mit dunklen Hosen und weißen Hemden auf striktes Schwarz-Weiß mit einigen wenigen roten Farbakzenten. Und die beiden Angewandten Theaterwissenschaftler Jost von Harleßem (Video) und Rupert Jaud (Sound) prägen die Inszenierung mit ihrer Live-Performance. Immer wieder erscheinen am Bühnenhintergrund Zahlen- und Wortkritzeleien oder Nahaufnahmen von Gesichtern, die von Harleßem vom Tisch aus projiziert. Am Computer generierte Töne erzeugen Sci-Fi-Stimmung. Das passt gut oder karikiert das Geschehen, etwa wenn bei einer Hinrichtung Beethovens »Ode an die Freude« erklingt.

Lukas Goldbach spielt Winston Smith als egozentrischen Rebellen, der wie Snowdon erst Teil des Systems war und im »Ministerium für Wahrheit« skrupellos Staatsfeinde »entpersont« hat, dann aber ausschert, als es um seine eigene Privatsphäre geht. Doch während der Whistleblower standhaft bleibt, knickt Winston unter der auf der Bühne beklemmend dargestellten Folter ein. Ein Held sieht anders aus.

Roman Kurtz als durchtriebener Staatsscherge O’Brien und Gastschauspieler Burkhard Wolf als perfider Antiquitätenhändler und Folterknecht Charrington strahlen fast körperlich greifbar die Brutalität des Regimes aus – daran können auch Galajackett und riesige rote Sonnenbrille nichts ändern. Mirjam Sommer als Winstons Geliebte Julia, die »mit dem Unterleib rebelliert«, bringt wahre Emotionen ins Spiel. Milan Pesl schwadroniert als Syme über die angeblichen Vorzüge des »Neusprech«, jener Sprache, die im fiktiven Ozeanien zur Verkümmerung beiträgt. Rainer Hustedt zeigt als Nachbar Parsons, wie schnell ein Täter oder Mitläufer zum Opfer werden kann. Und Beatrice Boca obliegt es, als Mutter Winstons die prägenden Worte des Stücks zu schreien: »Big brother is watching you«.


Karola Schepp, 15.11.2015, Gießener Allgemeine Zeitung