Gießener Stadttheater zeigt filmisches Stück „Mao und ich“ - Gießener Anzeiger

18.01.2016

Fernsehen – das gibt es doch nur zu Hause in der Glotze oder in Cafés und Kneipen, wo Nachrichten aus aller Welt pausenlos über den Bildschirm flimmern. Seit dem Wochenende gibt es aber auch auf der Bühne des Gießener Stadttheaters TV-Unterhaltung im Abendprogramm – und das ist nicht abschätzig gemeint. Dort hatte am Samstag ein Stück Premiere, das mit voller Absicht im Revier der Filmemacher wildert.

Vor gut zwei Jahren bei der Uraufführung in Mannheim durchgefallen, hat das Gießener Publikum den Fernsehabend (auch ohne Wein, Bier und Salzstangen) im gut besuchten Stadttheater mit freundlichem Applaus aufgenommen. Das liegt aber vor allem an der pfiffigen, ausgeklügelten Inszenierung des Gastregisseurs Dirk Schulz und an den guten darstellerischen Leistungen des Ensembles.

Skurrile Akzente

„Mao und ich“, so der Titel, ist zwar keine künstlerische Offenbarung, doch in den Händen von Schulz und seinem Team ist eine kurzweilige Aufführung mit skurrilen und amüsanten Akzenten von zweieinhalb Stunden Dauer entstanden. Gleichwohl hätte man noch etwas kürzen können, denn nach der Pause hängt die Geschichte ein wenig durch. Hauptsache aber ist, dass die Zuschauer viele Male schmunzeln können – und zwar über sich selbst und ihre eigenen Schwächen. Und damit ist auf dem Theater schon viel erreicht.

Die mit etlichen renommierten Literatur- und Theaterpreisen ausgezeichnete Autorin Ulrike Syha (39) macht in der Regieanweisung deutlich, dass sie sich in „Mao und ich“ an Drehbüchern und der Welt des Films orientiert hat: „Deshalb ist das hier auch kein Stück. Sondern ein Film. Ein Film fürs Theater.“ Im Fußball würde man von einer Steilvorlage sprechen. Schulz greift sie bereitwillig auf, lässt zu Beginn das Rattern eines Filmprojektors hören, dazu erscheint auf einer dunklen Kinoleinwand der Filmtitel in chinesischen Schriftzeichen, unterlegt mit üppiger Filmmusik. Chinesische Musik von der Peking-Oper bis zum Schlager begleitet auch im Folgenden das filmische Geschehen mit raschen Szenenwechseln, Vor- und Rückblenden und plötzlich eingefrorenen Bewegungen (Musik: Fabian Kühlein).

Abstrakter Raum

Wir sind in China, in der Millionenstadt Chongqing in Zentralchina. Bühnenbildner Bernhard Niechotz hat einen abstrakten Bühnenraum geschaffen, der durch kleine Veränderungen alles sein kann. Von einer schiefen Trennwand, wie man sie aus japanischen oder chinesischen Häusern (natürlich vom Fernsehen her) kennt, gehen am Boden konzentrische Kreise aus. Rechts ein Vorhang, von oben ein paar Lampen bzw. rote Lampions. Auf der Wand sieht man dicke Regentropfen, Ausschnitte aus alten chinesischen Schwarzweißfilmen, Bilder eines Frosches, eines Rehs – aber alles, genau wie die Musiksequenzen, sparsam und mit Bedacht eingesetzt. Wir befinden uns in der Lobby oder auch im Frühstücksraum eines Fünf-Sterne-Hotels, in irgendeinem Restaurant in der Millionenstadt, aber auch – viele tausend Kilometer entfernt – im Garten eines abgeschiedenen alten Bauernhauses in Deutschland. Die eingesetzte Drehbühne zwischen den Szenen verstärkt den Eindruck filmischer Zooms und Kamerafahrten.

Der Hochschuldozent Marek und die Journalistin Ruth, beide um die 40, nehmen in Chongqing an einer internationalen Konferenz für irgendetwas teil. Sie sind Freunde, kennen sich aus Studientagen, aber ein Liebespaar ist nie aus ihnen geworden. Ruth ist mit einem Import-Export-Manager verheiratet, der zudem der Geschäftspartner ihres Vaters ist. Marek hat wechselnde Affären, wobei er den Frauen jeweils andere, erfundene Lebensläufe auftischt. Zur Überraschung aller nimmt an der Konferenz auch Mareks Stiefvater Lars, ein berühmter Dokumentarfilmer und Weltenbummler, teil. Mit der Wahrheit, so merkt man bald, nimmt es keiner so genau. Alle lügen sich etwas vor. Das Thema ist gewiss nicht neu auf der Theaterbühne. Schon Ibsen war von der Frage nach der Lebenslüge getrieben, aber Ulrike Syha und die Gießener Inszenierung zeigen nun die Brüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die offensichtlichen Brüche in den fragilen Beziehungen moderner Menschen auf.

Dazu bedient sich Regisseur eines Kunstgriffs: Er lässt die treffend beschreibenden und durchaus witzigen Regieanweisungen aus dem Off von Rainer Domke und Fabian Kühlein sprechen. Heiterkeit im Publikum. Die Komik wird noch dadurch verstärkt, dass das in der Regieanweisung Genannte und das auf der Bühne Gezeigte nicht übereinstimmen. Beispiel: Da heißt es, jemand stecke sich eine Zigarette in den Mund, aber man sieht, wie dieser Jemand, hier Lars, eine Apfelsine schält.

Carolin Weber als Ruth und Oliver Jaksch als Marek geben sich nichts. Sie streiten wie ein altes Ehepaar, jeder kennt die Schwächen des anderen. In Jeans und mit blondem Zopf verkörpert Carolin Weber die Journalistin als flotte, schlagfertige und unentwegt insistierende Frau. Im Vergleich zu diesem Energiebündel wirkt Marek wie ein knuffiger, professoral zerzauster Teddybär, bei dem Oliver Jaksch aber durchblicken lässt, dass man ihn nicht unterschätzen darf. Roman Kurtz, ganz Abenteurer im hellen Safari-Anzug mit Hut, macht auch deutlich, dass an dieser Figur alles nur Fassade ist. Gelangweilter Typ und immer ein bisschen von oben herab – das ist Christian Fries als Ruths wortkarger Ehemann und als gesprächiger Ex-Kollege ihres Mannes. Wandlungsfähig spielt Beatrice Boca mit – als mütterliche Therapeutin ebenso wie als superblonde IT-Managerin im engen Kostüm. Eine komische Figur ist der Konferenzmanager Wetterstein, den Milan Pesl in atemlosen Tempo ohne Punkt und Komma sprechen lässt.

Also, auf nach China mit dem Gießener Stadttheater. Und der Fernseher bleibt diesmal aus!

 

Thomas Schmitz-Albohn, 18.01.2016, Gießener Anzeiger