Großer Wurf mit „Kronos & Kairos“ gelungen - Gießener Anzeiger

18.05.2016

Der kosmische Ausflug in eine ferne, weit zurückliegende Welt dauert nur 70 Minuten. Aber nach dieser Reise kehrt man mit einer Fülle von Sinneseindrücken, mit luziden Klängen im Ohr und Bild gewordener Musik im Kopf in einen Alltag zurück, der plötzlich als sehr nüchtern und rational empfunden wird. Am liebsten möchte man gleich wieder hin und sich noch einmal dem eigentümlichen Zauber hingeben. Der Ort, an dem das geschieht, befindet sich mitten auf der Bühne des Stadttheaters, wo die Uraufführung des experimentellen Musiktheaterprojekts „Kronos & Kairos“ unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter zu erleben ist. Bei der Premiere am Samstagabend war das Publikum einfach nur hingerissen.

Großer Wurf

Nach der deutsch-türkischen Oper „Gegen die Wand“ ist dem Gießener Musiktheater mit dieser ebenso ehrgeizigen wie aufwendigen Produktion zum Ausklang der Spielzeit erneut ein großer Wurf gelungen, der weit über Gießen hinaus große Aufmerksamkeit erregen dürfte: „Kronos & Kairos“ ist einzigartig, weil es dergleichen nirgends sonst gibt, und es ist innovativ, ohne die älteren Theaterbesucher zu verschrecken.

Ein „Moment der Verzauberung“ hatte Intendantin Cathérine Miville im Vorfeld versprochen, und nach diesen 70 Minuten weiß man, dass sie nicht übertrieben hat. Man hört, man schaut, man staunt und kann nur noch mit Goethe sagen: „Hier ist ein Wunder, glaubet nur.“ 70 Minuten lang ist man mittendrin und sieht, wie die Bühnentechnik ihre Arbeit verrichtet – und ist dabei doch ganz hinweggehoben in andere Sphären.

Dieser Theaterabend, der so völlig anders ist als andere und so völlig anders beginnt als sonst, versetzt das Publikum in die Gefühls- und Glaubenswelt des Frühbarock. Dazu bleibt der Zuschauerraum leer. Die Besucher werden in getrennten Gruppen auf die Bühne geführt und blicken von ihren Sitzen in den leeren Zuschauerraum vor ihnen. Der eiserne Vorhang senkt sich, das Licht geht aus, und die Drehbühne, auf der man sitzt, setzt sich in Bewegung. Es ist dunkel, und man meint, in einer Raumkapsel zu sitzen, die durchs schwarze All langsam dahingleitet. Aus allen Richtungen, von oben und unten, von hinten und vorne, von rechts und längst, hört man flüsternde Stimmen, Atmen, dann mehrstimmigen Gesang: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr zu Dir!“ Überall im Raum sind Sänger und Musiker in Gruppen postiert. Wie in einem schwirrenden Bienenkorb sind die Besucher fortwährend von Musik umgeben und umschlossen.

In der einfallsreichen, fantasievollen Inszenierung des Duos Auftrag: Lorey geht es 400 Jahre zurück in eine Zeit, in der sich die Gedanken an die irdische Vergänglichkeit in vielerlei Motetten niederschlug. Bjoern Auftrag und Stefanie Lorey haben die von tiefer Frömmigkeit und Glaubenszuversicht geprägten Stücke in einprägsame Bilder übersetzt. Die Sängerinnen und Sänger, die die mehrstimmigen Psalmvertonungen von Andrea Gabrieli und Michael Praetorius sowie die „Musikalischen Exequien“ von Heinrich Schütz in ihrer glasklaren Schönheit zum Klingen bringen, haben Irokesenfrisuren und tragen weiße Anzüge (Kostüme: Katharina Sendfeld), die einerseits an das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer, anderseits an die Besatzung des Fernseh-Raumschiffs Orion erinnern. Wenn in den „Exquien“ gesungen wird, „es ist allhier ein Jammertal, Angst, Not und Trübsal überall, des Bleibens ist eine kleine Zeit“, fährt aus dem Bühnenboden (Bühne: Lukas Noll) ein Schaukasten hervor, bei dem das Lahnfenster Pate gestanden haben könnte: oben Wasser, links ein Fischkopf, rechts der Schwanz und in der Mitte ist Rembrandts berühmtes Gemälde „Die Anatomie des Dr. Tulp“ mit Chorsängern nachgestellt.

Klangfülle

Das Schöne und Beglückende dieses Abends ist aber die Musik, die auf das Publikum einströmt. Umsichtig und mit elanvoller Präzision dirigiert Hofstetter die große Schar an Sängern und Barockinstrumentalisten, die in vielen Gruppen im Raum verteilt sind und so eine ungeheure Klangfülle erzeugen. Zu den Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters gesellen sich junge Musiker aus den Reihen der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Es gibt zum Beispiel vier Cembalisten, wovon einer auf einer großen Silberscheibe sitzend über den Köpfen des Publikums schwebt. Sie alle lassen die geistliche Musik aus ferner Zeit mit sensiblem Klangsinn wundersam erstrahlen. Mal agiert Hofstetter auf der Bühne, mal mitten im Publikum, mal hoch oben auf dem Schnürboden, und zum Schluss erscheint er riesengroß über Video auf dem eisernen Vorhang. Neben den Barockinstrumenten ertönen aber auch kurz schräge Posaunen und allerlei elektronisches Knirschen und Zirpen, denn die beiden zeitgenössischen Komponisten Richard van Schoor und Sergej Maingardt steuern ihre Klangexperimente im Kontrast zu den Altmeistern bei. Das elektronische Zischen weckt Erinnerungen an Science-Fiction-Abenteuer im Weltall.

Zum Schluss öffnet sich wieder der Blick in den Zuschauerraum, aus dem Nebelschwaden hervorquellen: ein weißer, in fahles Licht getauchter Raum. Wenn sich der Nebel allmählich verflüchtigt, sieht man oben im ersten Rang den Schauspieler Roman Kurtz, der einen poetischen Text der Autorin Jules Buchholtz vorträgt und damit den Bezug zum Titel „Kronos & Kairos“ herstellt. Kairos bezeichnet in der griechischen Mythologie den günstigen Augenblick, um etwas zu tun. Und dieser Augenblick ist in dieser Inszenierung nach genau 70 Minuten erreicht. Dann ist alles gesagt und gesungen. Das Staunen darüber darf ruhig länger dauern.

 

Thomas Schmitz-Albohn, 18.05.2016, Gießener Anzeiger