Im neuen Klangkosmos - Gießener Allgemeine Zeitung

17.05.2016

Als wär’s eine Reise in eine fremde Galaxie. Im Musikprojekt »Kronos & Kairos« sitzt das Publikum nicht wie gewohnt im Großen Saal des Stadttheaters. Es nimmt mitten auf der Bühne Platz. Dirigent Michael Hofstetter drapiert sein Ensemble drumherum. Und plötzlich dreht sich alles.

Es ist der Abend des Michael Hofstetter. Der Generalmusikdirektor erscheint allgegenwärtig. Zu Beginn betritt er die Szenerie und leitet das Geschehen mit einem Glockenschlag ein. Das Licht erlischt, der eiserne Vorhang schließt sich. Unter den 150 Besuchern, die im Bühnenhaus und direkt auf der Bühne – nicht im Großen Saal wie sonst – Platz genommen haben, herrscht atemlose Stille.

Sphärische Klänge ertönen, die Bühne mit dem Publikum setzt sich in Bewegung und dreht sich um 180 Grad, begleitet von der Stimme des Schauspielers Roman Kurtz. Sie dringt aus Lautsprechern und schwillt zu einem gesprochenen Fugato an, ehe Hofstetter hell erleuchtet dasteht und das erste barocke Stück des Musiktheaterprojekts »Kronos & Kairos« anstimmt.

Die Musiker und Sänger sind an den Seiten des kathedralenartig finsteren Baus auf drei Ebenen verteilt und erobern den Raum klanglich aus allen Richtungen. Es entsteht eine Quadrofonie von beachtlicher Schönheit. Beim nächsten Titel fährt Hofstetter aus der Tiefe des Raums empor und leitet sein Ensemble von einem Podest aus, plötzlich thront er oben auf der vorletzten Empore des Schnürbodens und dirigiert von dort herab. Schließlich erscheint er als Überhöhung der eigenen Person in einer überlebensgroßen Projektion auf dem eisernen Vorhang. Sänger und Musiker reagieren punktgenau auf seine Anweisungen. Alles läuft wie geplant.

Gespielt und gesungen werden bis zu 16-stimmige Motetten. »Aus tiefster Not schrei ich zu dir« heißt jene von Michael Praetorius nach einem Text und einer Melodie von Martin Luther. Von Andrea Gabrieli stammen »Deus miseratur nostri« und »De profundis clamavi ad te, domine«, Giovanni Gabrieli steuert »Exaudi me domine« bei, Heinrich Schütz seine »Musikalischen Exequien«. Die »Hymne« hat Richard van Schoor eigens für den Abend komponiert. Auch die Übergänge zwischen den einzelnen Motetten stammen von ihm. Für den Elektrosound ist Sergej Maingradt verantwortlich.

Hofstetter legt Wert darauf, dass es sich bei der überwiegend frühbarocken Kirchenmusik um ein interkonfessionelles Miteinander handelt, da der katholische Giovanni Gabriele Lehrmeister des protestantischen Schütz war: »Egal, welcher Religion ein Besucher angehört, er sollte sich von unserer Musik angesprochen fühlen.«

Das Regiekollektiv Stefanie Lorey und Bjoern Auftrag hat sich bei »Kronos & Kairos« in einer handlungslosen Inszenierung auf die wesentlichen Aussagen konzentriert. Das Maß der Zeit (nach dem griechischen Gott Chronos) trifft auf die Gunst der Gelegenheit (Kairos). Lorey und Auftrag haben Assoziationen geschaffen, die sich mit Räumen, Ängsten, Sehnsucht und Ewigkeit beschäftigen. Das Schicksal des Menschen als Spielball der Vergänglichkeit wird in diesem Projekt, das in Kooperation mit der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst im Rahmen der Hessischen Theaterakademie steht, leidlich erfahrbar.

Katharina Sendfeld präsentiert weiße Kostüme, um die Solo-Sänger von dem in dunklen Mönchskutten gewandeten Chor optisch zu separieren. Lukas Noll gelingt beim Bühnenbild auf kleinem Raum Großes. Aus der Tiefe fährt ein Kasten empor, in dem eine Handvoll Protagonisten ein Rembrandt-Gemälde nachstellen: »Die Anatomiestunde des Dr. Nicolaes Tulp«. Ein weiteres Kunstwerk prangt in dem Kasten. Der im Original in Formaldehyd eingelegte Hai von Damian Hirst.

Kurz vor dem Ende hebt sich der eiserne Vorhang und aus dem zu einem Meer mutierten Großen Saal wabert Nebel herbei. Sprecher Kurtz sitzt im ersten Rang und rezitiert einen Text von Jules Buchholtz. Es geht darin um die Zeit und das menschliche Bewusstsein. Langer, intensiver Applaus vom beeindruckten Publikum.

Manfred Merz, 17.05.2016, Gießener Allgemeine Zeitung