»Iphigenie auf Tauris« mit Witz im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

01.01.1970

Als »ganz verteufelt human« hat Goethe sein Seelendrama »Iphigenie auf Tauris« einst beschrieben. Kaum spielbare Bühnenhandlung, eine fremde Sprache und jede Menge Mythologie – das sind die Schlagworte, die uns heute einfallen. Wolfgang Hofmann zeigt aber, dass das Versdrama auch heute noch fesseln kann.

 

Wolfgang Hofmann weiß, wie man das Theaterpublikum bei Laune hält. Wird ihm das mit seiner aktuellen »Wanze«-Produktion auf der Studiobühne noch leicht gemacht, so ist Goethes »Iphigenie auf Tauris« dahingehend eine echte Herausforderung. Die eigentliche Handlung findet in den
Rededuellen der Protagonisten statt – und die sprechen noch dazu in einer Sprache, in der »vor der Seele leichte Bangigkeit vorüberzieht« oder »der Krampf des Lebens aus dem Busen gespült« wird. Hofmann weiß um diese Schwierigkeiten und reagiert sehr geschickt auf die Herausforderung: Er verdichtet den Text auf knapp 100 pausenlose Minuten, garniert die Vorlage mit kleinen Gags von »griechischem Bein« oder »rainer Wahrheit«, wenn sich die Zuschauer im Dickicht der wuchtigen Sprache zu verlieren drohen, und setzt ganz auf die ungebrochene Kraft des Stücks und seine exzellente Hauptdarstellerin Carolin Weber. Billige Aktualisierung hat diese Inszenierung nicht nötig, schließlich geht es um zeitlose Fragen.

Weber trägt mit ihrem Spiel den Abend von der ersten bis zur letzten Minute. Ihre Iphigenie, die auf Tauris als Priesterin leben muss und ihr Heimatland Griechenland und ihre fluchbeladene Familie »mit der Seele sucht«, ist zutiefst menschlich. Sie ist ausgelassen wie ein Kind, wenn sie Sirtaki hört, peinlichst berührt, wenn ihr Taurer-König Thoas einen Antrag macht, und von ihren Gefühlen überwältigt, als sie ihren Bruder Orest wiedererkennt, den sie auf Thoas’ Geheiß töten soll. Sie ist aber auch störrisch wie ein Maulesel, wenn es darum geht, sich zwischen einer nachvollziehbaren Lüge und der eventuell todbringenden Wahrheit zu entscheiden. Sie tut alles, um ihre Seele rein zu halten und durch das Gute das Böse zu besiegen. Und dabei bleibt ihr nur die Sprache als Waffe im Kampf um ihre Überzeugung – eine Waffe, die Weber trotz der komplexen Verse mit Leichtigkeit führt.

Der moralische Held des Stücks ist König Thoas, gewohnt souverän gespielt von Roman Kurtz. Wenn er am Ende auf die Opferung Orests verzichtet und Iphigenie mit einem hervorgepressten »Lebt wohl!« entlässt, dann straft er all jene Lügen, die sein Volk als Barbaren ansehen. Thoas zeigt Großmut und Toleranz und spricht »ein großes Wort gelassen aus«. Er gibt nach, während Iphigenie vehement fordert und sich, etwa mit ihrer Weigerung Skythisch zu sprechen, gänzlich unangepasst gibt.

Dass es sich bei »Iphigenie auf Tauris« nicht um eine überholte altertümliche Geschichte, sondern um zeitlose Themen wie Fremdsein oder Menschlichkeit handelt, dem trägt auch das gelungene und zeitlich ungebundene Bühnenbild von Lars Peter Rechnung. Er hat eine auf das Wesentliche reduzierte Tempelanlage mit einer riesigen lindgrünen Sitzbank geschaffen. Hier wartet die mit langem Rock und Pulli bekleidete Iphigenie darauf, endlich Erlösung zu finden. Eine Wasserlache an der Bühnenrampe erinnert mit sinnlichem Plätschern an die Gestade von Tauris und bietet den Protagonisten – zur Freude der ersten Zuschauerreihen – reichlich Gelegenheit zum Baden. Ein Stacheldraht zeigt jedoch, dass die Idylle trügt und Iphigenie in Wahrheit eine Gefangene ist. Cellomusik unterstreicht die Düsternis. Und wenn dann König Thoas im übertragenen Sinne Mauern einreißt, dann hebt sich in einem magischen Moment die Kulisse, gibt den Blick frei ins dunkle Nichts. Ein Zauber wohnt diesem Bühnenbild inne und man wünscht sich weitere Einsätze Peters.

Stimmig ist auch die Besetzung der weiteren Rollen: Rainer Hustedt als Thoas’ Vertrauter Arkas zelebriert zum Vergnügen der Zuschauer die Wortgefechte mit Iphigenie, Lukas Goldbach spielt den am Fluch des Muttermords beinahe zerbrechenden Orest als fragilen Jüngling und Maximilian Schmidt hat als dessen Freund Pylades nicht nur vernünftige Ratschläge parat, sondern gefällt auch dadurch, dass er sich in Goethes genialer Sprache offenbar sehr wohl fühlt.

Hofmanns Kalkül, dem Klassiker im Vertrauen auf dessen Kraft und mit Reduzierung auf das Wesentliche, neue Präsenz zu verleihen, geht auf. Auch wenn man über den ein oder anderen eingestreuten Witz durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann: Diese »Iphigenie« ist eine äußerst gelungene Eröffnung der neuen Schauspielsaison im Großen Haus. Premierenjubel, vor allem für Carolin Weber, zeigte, dass der Großteil des Publikums den Abend goutiert hatte.

 

Karola Schepp, Gießener Allgemeine Zeitung, 29.09.2015