Jubel, Trubel, Walzertakt im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

01.01.1970

Operette sich wer kann? Diesmal nicht. Diesmal machen sie alles richtig am Stadttheater. Und landen mit dem alten Schenkelklopfer »Im weißen Rössl« von Ralph Benatzky ihren Spielzeit-Hit.


Auf den ersten Blick ist alles Folklore. Das Bergpanorama mit dem Himmelblau, die beschauliche kleine Herberge, die resolute Wirtin. Dirndl, Trachten, Lederhosen. Doch dahinter verbirgt sich gelungene Situationskomik und der launige Humor einer Persiflage auf die Sommerfrische. Das Singspiel »Im weißen Rössl« von Ralph Benatzky (und einigen Co-Komponisten) aus dem Jahr 1930 hat im Stadttheater in der Inszenierung von Thomas Goritzki das Zeug, zum Publikumsliebling zu avancieren. 17 Aufführungen sind angesetzt, und nach der Premiere am Samstagabend darf man konstatieren: Sie werden alle ausverkauft sein.

An der pausbackigen Handlung liegt es nicht. Zahlkellner Leopold ist verliebt in seine Chefin Josepha vom Hotel »Zum weißen Rössl«. Als der listige Anwalt Dr. Erich Siedler um das Herz der feschen Wirtin buhlt, geht es rund. Wie es gelingt, im Ferientrubel am Wolfgangsee sein Glück zu finden, das erzählt dieser Operettenklassiker.

Natürlich kriegt am Ende jedes Töpfchen sein Deckelchen, wenn Siedler die kesse Ottilie, Tochter des polternden Berliner Firmenchefs Giesecke, in den Armen hält, der schöne Sigismund sich das scheue Professorentöchterchen Klärchen angelt und Leopold nach allerlei Irrungen und Wirrungen seine Josepha bekommt.

Der Erfolg des Stücks liegt in Gießen am Ensemble. Tomi Wendt ist als Zahlkellner Leopold unbezahlbar. Der Bassbariton meistert die Tenorbufforolle mit Esprit und Schauspielkunst. Der österreichische Zungenschlag liegt dem gebürtigen Bayern im Blut, die hinterlistige Komik ist sein Metier – so brilliert Wendt in der ihm auf den Leib geschriebenen Hauptrolle.

Wer Pascal Thomas am Stadttheater bisher nur als Schauspieler kannte, hat das Beste verpasst: seinen Sigismund. Als selbstverliebter Gockel zieht Thomas mit dem quirligen Foxtrott »Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist« seine humoristischen Register. Der junge Mime mausert sich neben Wendt zum Star des Abends. Als eitler Fatzke wird Thomas lange in Erinnerung bleiben, wegen des permanent zuckenden Knies, der Wortakrobatik und der plötzlichen Halbglatze, die aus dem Schönling einen Hässling machen soll.

In bester Spiellaune erweisen sich ebenfalls Jan-Christof Kick bei seiner Gießen-Premiere als Fabrikant Giesecke, Anne-Elise Minetti als lispelnde Professorentochter, Judith Peres in ihrer ersten Stadttheater-Rolle als »Rössl«-Wirtin Josepha und Harald Pfeiffer als Kaiser. Tausendsassa Maximilian Schmidt verbucht als Piccolo gekonnte Slapstickeinlagen. Ottilie (Naroa Intxausti), Briefträgerin Kathi (Elisabeth Halikiopoulos), Dr. Erich Siedler (Ricardo Frenzel Baudisch) und Professor Hinzelmann (Markus Rührer) runden das von Regisseur Goritzki gut aufeinander eingestimmte Ensemble ab.

Der Altmeister führt die Protagonisten mit sicherem Gespür und setzt vieles drastisch in Szene – mit vom Himmel fallenden Kuhfladen, einem singenden Tenor als Radfahrer, einer kantigen Bergwanderung auf der Leiter und schlüpfrigem Badespaß in der versenkbaren Umkleidekabine. Die Techniker eilen in Kostümen herbei, wenn sie gebraucht werden. Der akzentuierte Einsatz der Drehbühne und die bunte Festbeleuchtung am Schluss runden das Bild ab. Ausstatter Heiko Mönnich hat ganze Arbeit geleistet.

Zum Erfolg tragen ebenso die Choreografen Tarek Assam und Anthony Taylor bei. Sie sorgen für geordnete Bewegungen und flirrende Effekte. Sechs Mitglieder der Tanzcompagnie des Hauses präsentieren dynamische Körperspannung. Der Chor sowie Mitglieder des Kinder- und Jugendchores (Einstudierung: Jan Hoffmann) bleiben ohne Fehl und Tadel.

Das Philharmonische Orchester Gießen, zu einer 32-köpfigen Jazzband mit drei Saxofonen und Zither umfunktioniert, hält unter der Leitung von Florian Ziemen eine kleine Überraschung parat: Aus dem Graben perlt die Originalpartitur von 1930, die in Archiven ausfindig gemacht wurde und 2009 in Dresden zur Uraufführung kam. Sie setzt auf etwas mehr Doppelbödigkeit und Parodie als die über Jahrzehnte gepflegte schmalzige Version des »Rössls« aus den 50er Jahren. Herausgekommen ist eine muntere Interpretation der Hits wie »Im Salzkammergut, da kamma gut lustig sein« oder »Zuschau’n kann i net«. Der Walzer »Im weißen Rössl am Wolfgangsee« geht ebenso unter die Haut wie der Slowfox »Die ganze Welt ist himmelblau« – Lieder, die jeder kennt. Dass Ziemen sein Orchester hin und wieder Tempi-Schwankungen unterwirft, mag dem Gestaltungsfreiraum des Dirigenten geschuldet sein.

Das »Rössl« entpuppt sich als zeitlose Komödie mit Musik, in der Schauspieler, Sänger und Tänzer einen hohen Spaßfaktor garantieren. Jubel im Publikum.

Manfred Merz, 02.11.2015, Gießener Allgemeine Zeitung