Knallbuntes Spektakel um Schloss Avenel - Gießener Anzeiger

MUSIKTHEATER Wiederentdeckte Oper „Die Weiße Dame“ als leichtes, vergnügliches Unterhaltungstheater / Großer Beifall am Premierenabend
08.02.2016

Die Ausläufer der fünften Jahreszeit schwappen auf die Bühne des Gießener Stadttheaters über. Gerade noch rechtzeitig zur Kampagne klinkt sich das Haus am Berliner Platz mit einem knallbunten Spektakel ins fröhliche Treiben ein.

In der Inszenierung von Gastregisseur Dominik Wilgenbus feierte am Samstag die lange in Vergessenheit geratene Opéra comique „Die Weiße Dame“ des Franzosen François-Adrien Boieldieu Premiere. Die Besucher im voll besetzten Haus tauchten in ein farbenfrohes Geschehen mit märchenhaften Zügen und grellen Tupfern ein, das stets mit einem Augenzwinkern daherkommt und sich selbst nicht ganz ernst nimmt.

Beschwingt und einfühlsam steuert das Philharmonische Orchester Gießen unter der umsichtigen Leitung des stellvertretenden GMD Jan Hoffmann eingängige, gefällige Melodien bei, die ihre biedermeierliche Herkunft nicht verleugnen können.

Wenn man sich fest vornimmt, sich amüsieren zu wollen, dann werden einem die 170 Spielminuten (mit Pause) nicht zu lang. Die Aufführung will als leichtes, vergnügliches Unterhaltungstheater genommen werden, und das empfanden wohl auch die meisten Premierenbesucher so, die am Ende lange applaudierten.

Die kurzzeitige Wiederbelebung eines Werks, das nach seiner umjubelten Uraufführung 1825 die europäischen Bühnen eroberte, jedoch seit über 70 Jahren aus den Spielplänen der Theater verschwunden ist, scheint auf den ersten Blick gelungen. Ob es allerdings ins Repertoire zurückkehrt, ist doch sehr fraglich, denn das Fluidum des Altbackenen lässt sich – zumindest in dieser Aufführung – auch nicht durch grellste Farben und schreiende Kontraste vertreiben. Worum geht‘s? Das heitere Stück nach Motiven von Walter Scott führt nach Schottland, genauer ins Schloss Avenel. Der rechtmäßige Erbe ist spurlos verschwunden, der intrigante Verwalter will sich das Schloss samt Grafentitel unter den Nagel reißen, ein unbekannter englischer Offizier taucht auf, und die Weiße Dame soll gesehen worden sein, die sich immer dann zeigt, wenn es schlecht um das Grafenhaus bestellt ist.

Dominik Wilgenbus, der zudem eine durchaus witzige Neufassung des Textes erstellt hat, setzt bei seiner Wiederbelebung auf ironische Verfremdung und fügt belebende clowneske Elemente hinzu. Das zeigt sich gleich zu Beginn bei der Ausstaffierung des Chors (Bühne und Kostüme: Lukas Noll), die der Bezeichnung „gemischter Chor“ in eine ganz neue Bedeutung gibt: Man sieht Schottenröcke, Felljacken, Mützen, einige Frauen tragen Männerkleidung und Bärte, einige Männer Frauenkleider. Gespielt wird auf einer schrägen, grasgrünen Ebene. Links im Vordergrund steht das Schloss in Miniaturgröße. Später, wenn sich der Vorhang rundum hebt, blickt man ins Innere des Schlosses; es ist ein altes Gemäuer wie aus einem alten Gruselfilmen.

Der Regisseur führt die Darsteller zum Teil wie lustige Figuren im Puppentheater, die kantige Bewegungen vollführen, ab und zu hinfallen und ausgestreckt liegenbleiben. Sie kehren ihr Innerstes nach außen und erklären sich aus sich selbst. Ein Bösewicht wie zum Beispiel der Verwalter Gaveston muss nicht begründen, warum er so ist. Er ist es einfach, basta!

Diesem Gaveston nimmt Haus-Bariton und Erzkomödiant Tomi Wendt zwar nicht das Böse, zeigt ihn aber als lächerliche Figur. Wenn er mit seiner gelb-schwarz karierten Jacke auftritt, meint man, er sei einem Comic entsprungen. Gesanglich ist Wendt jederzeit auf der Höhe: ausdrucksstark, treffend, wendig.

Die größte Partie fällt einem Gast aus Wien zu, dem jungen lyrischen Tenor Clemens Kerschbaumer. Als Offizier George Brown ist er fast durchgängig in Aktion. Doch dieses immense Pensum absolviert Kerschbaumer mit großer Energie. Stimmlich und auch optisch ist er ein strahlender Held mit einem schönen, weit tragenden Tenor. Und seine Arien sind voller Schmelz und Herzenswärme. Komödiantisches Spieltalent hat er auch, wie sich bei der Begegnung mit der Weißen Dame zeigt, bei der er sich in ihrer meterlangen Schleppe verheddert.

Mit ihrem engelsgleichen Sopran hat Naroa Intxausti den Gießener Opernfreunden schon viele schöne Momente beschert. Auch als Anna (unvorteilhaft kostümiert!) und Weiße Dame erweist sie sich erneut als Interpretin, die den Figuren nicht nur zarten Spitzentöne, sondern auch Glaubwürdigkeit verleiht.

Ausdruckvoll, keck und mit Liebreiz – das ist Katharina Göres (Sopran) als Jenny; ihr zur Seite Ralf Simon (Tenor) als Dickson. Stefanie Schaefer (Mezzosporan) verkörpert die leicht tatterige Margarethe, und Calin-Valentin Cozma (Bass) schwingt als Friedensrichter den Hammer bei der Schlossversteigerung.

„Die Weiße Dame“ ist ein dankbares Stück für den Chor (einstudiert von Jan Hoffmann), der sich immer wieder in das Geschehen einschaltet. Stimmgewalt schön und gut, aber hier ist es manchmal zu stimmgewaltig. Etwas weniger (Phon) wäre mehr (Genuss).

 

Thomas Schmitz-Albohn, 08.02.2016, Gießener Anzeiger