»Patentöchter« im Theaterstudio - Gießener Allgemeine Zeitung

13.11.2015

1977 wurde Jürgen Ponto von RAF-Terroristen ermordet. Susanne Albrecht, Schwester seines Patenkindes Julia, gehörte zu den Tätern. 30 Jahre später nimmt Julia Kontakt zu Pontos Tochter auf. Gemeinsam schreiben sie das Buch »Patentöchter: Im Schatten der RAF«. Das ist nun als szenische Einrichtung im Theaterstudio zu erleben.

 

Um die Täter kümmern sich Justiz und Öffentlichkeit, die Angehörigen der Täter und Opfer bleiben Randerscheinungen. Julia Albrecht, Schwester der RAF-Terroristin Susanne Albrecht, und Corinna Ponto, die Tochter des von der Roten Armee Fraktion ermordeten Dresdner-Bank-Vorstandssprechers Jürgen Ponto, haben dieses Schema durchbrochen. Sie zeigen, welche verheerenden Folgen eine Tat hat – aber auch, dass Versöhnung möglich ist. Nach vorsichtiger Wiederannäherung – Albrechts und Pontos waren vor dem Mord eng befreundet, nachher herrschte Jahrzehnte Funkstille – sprechen sie über das Geschehene und seine Folgen für beide Familien. In ihrem 2011 erschienenen Buch »Patentöchter: Im Schatten der RAF« führen die Schwester der Täterin und die Tochter des Opfers den Dialog, den Regisseur Christian Lugerth nun als szenische Einrichtung nach der Bühnenfassung von Mirko Böttcher auf der Studiobühne präsentiert (Ausstattung: Denise Schneider).

Muss man ein solches Buch auf die Bühne bringen? Bedarf es des zusätzlichen Mediums, oder hat das geschriebene Wort nicht schon alleine genug Kraft? Diese Frage stellt sich schon. Nach dem etwas mehr als einstündigen Theaterabend ist die Antwort klar: Man darf, aber man muss nicht. Lugerth lässt seine Darstellerinnen – Carolin Weber als Julia Albrecht, Petra Soltau als Corinna Ponto – einzelne Kapitel sprechen. Schließt man die Augen, bleibt der Eindruck einer Lesung. Aber der Heckenrosenstrauß auf dem Boden – so einen hatte Susanne Albrecht zum Besuch im Hause Ponto mitgebracht – , die historischen Fernseh- und
Fotoeinspieler, die zitierten Briefe und Artikel – sie intensivieren den Eindruck, machen Erinnerungen wieder greifbar.

Weber und Soltau, die eine exorbitante Textmenge zu bewältigen haben, zeigen auf beeindruckend reduzierte Weise, welche seelischen Wunden der Mord bei beiden Frauen hinterlassen hat. Während die Eine versucht, die unfassbare Tat der Schwester mit dem Verstand zu realisieren, sich gleichzeitig gegen die gesellschaftliche Ächtung ihrer eigenen Person stemmt und den ersten Schritt zu einer Annäherung mit dem Opfer macht, lässt die Andere das neuerliche Aufreißen alter Wunden zu, wechselt vom passiven Leiden zum aktiven Gegenhalten – etwa mit einer Klage gegen die Darstellung des Mordes im Film »Baader Meinhof Komplex« – und prangert die ihrer Ansicht nach wahren Schuldigen an. Für Corinna Ponto ist das Zuhause zu einem Tatort geworden, ihr privates Leben Teil der deutschen Geschichte. Mit Julia Albrecht zeigt sie, dass dieser Teil der Historie aufgearbeitet werden kann – und dass am Ende vielleicht sogar Aussöhnung möglich ist.

 

Karola Schepp, 13.11.2015, Gießener Allgemeine Zeitung