Premiere: „Iphigenie auf Tauris“ - Gießener Anzeiger

01.01.1970

Nein, diese Frau ist nicht zu beneiden. Denn schließlich muss sich Iphigenie entscheiden: Mit dem Bruder Orest in die geliebte Heimat Mykene zurückkehren oder doch beim letztlich immer gütigen König Thoas bleiben? Die Antwort darauf gibt es derzeit im Stadttheater, wo am Samstagabend Johann Wolfgang Goethes „Iphigenie auf Tauris“ Premiere hatte. Am Ende gab es kräftigen Beifall für die Inszenierung von Wolfgang Hofmann, vor der man mit Fug und Recht den Hut ziehen muss. Denn geradezu mustergültig führt Hofmann die Modernisierung eines Klassikers vor, ohne ihm Gewalt anzutun. Keine einfache Sache bei diesem mächtig pathetischen Drama.

Denn Goethe geht es in seinem Schauspiel, das er nach Umarbeitungen erst 1787 veröffentlichte, um nichts Geringeres als sein Ideal des Menschlichen. Man könnte es beschreiben als Suche nach der ausgewogenen Harmonie zwischen Wollen und Sollen, die am Zielpunkt angekommen in vollkommener menschlicher Größe gipfelt. An diesem Gehalt, der das Ideal der Weimarer Klassik spiegelt, knüpft Hofmann an. In einer gekürzten Form bleibt er dem Text Goethes praktisch treu, vollzieht allerdings eine ganz feine Phasenverschiebung, die vom Allgemeinmenschlichen des Stücks abrückt und auf die Psychologie des Personals fokussiert. Damit ist die Tendenz des Klassikers dieselbe, doch gelingt es dem Regisseur und den Seinen geradezu famos, die menschliche Entwicklung des Personals als individuelle innere und äußere Konflikte der Figuren zu profilieren. Dazu bedarf es keiner Videoinstallationen, abgedrehter Performances oder anderen Schnickschnacks.

Nein, Hofmann und seine Truppe konzentrieren sich auf den emotionalen Subtext von Goethes Klassiker, schaffen ihm in Mimik, Gestik und durchdachter Bewegung im Raum mehr Platz und damit einen neuen Zugang zum Stoff. Das verdient in der Tat kräftigen Beifall, denn dieser Zugang ist Theaterkunst auf sehr hohem Niveau. Unterstützt wird sie durch ein intelligentes Bühnenbild von Lars Peter, der ein klassizistisches Interieur mit Attributen des modernen Wartesaals, ein wenig Stacheldraht und einem Wasserbassin kombiniert und den Gehalt des Stückes so gekonnt visuell pointiert. Das tun auch Peters Kostüme, die eher schlicht daherkommen und den Platz der einzelnen Figuren im Dramengefüge unterstreichen. Kurz, eine große Inszenierung, die natürlich vor allem von der Leistung des Ensembles lebt.

Damit zu Carolin Weber, die in den letzten Jahren immer wieder ihr schauspielerisches Format unterstrichen hat und auch diesmal der unangefochtene Star des Stückes ist. Von den ersten Szenen an schafft sie ihre eigene Iphigenie: Es ist schlicht und einfach meisterlich, wie es Weber bei Beibehaltung des Goethe-Textes und allein durch Betonung und nonverbale darstellerische Mittel gelingt, ihre Figur nicht in erster Linie als Priesterin der Diana, sondern als einsamen Menschen in seinem Alltag an einer fremden Küste zu profilieren. Die innere Zerrissenheit zwischen Heimweh, der Verbundenheit zur neuen Heimat Tauris, der Liebe zum Bruder und zu König Thoas wird förmlich spürbar. Eine ganz tiefe Verbeugung vor Carolin Weber, die souverän und höchst authentisch bis zum Ende auf der Klaviatur der Affekte spielt und dafür am Samstag Extraapplaus bekam. Bravo! Als Orest macht Lukas Goldbach eine gute Figur. Man leidet mit dem Sohn von König Agamemnon, der aus Rache die Mutter umgebracht hat und erst durch das Treffen mit Schwester Iphigenie vom Wahnsinn befreit wird. Und auch mit König Thoas leidet man. Von Roman Kurtz gekonnt als verletzter Machtmensch angelegt, schafft es der Schauspieler mit seiner guten Darstellung, den inneren Zwiespalt zwischen Liebe zu Iphigenie, gekränkter Eitelkeit und letztlich vernunftgeprägter Menschlichkeit auf die Rampe zu bringen. Vervollständigt wird die beachtliche Ensembleleistung durch Maximilian Schmidt und Rainer Hustedt, die als Pylades und Arkas ebenfalls auf ganzer Linie überzeugen.

Das alles jetzt mal zusammengefasst: Regisseur Hofmann und seine Truppe zeigen nichts weniger als den gelungenen Transfer eines großen Klassikers ins Hier und Jetzt. Er bleibt Goethe treu, löst sich durch eine deutliche Akzentuierung des Subtextes jedoch aus dem 18. Jahrhundert und spiegelt damit Konflikte, die auch heute nicht aus der Welt sind. Theaterfreunde sollten sich diese Inszenierung nicht entgehen lassen.


Stephan Scholz, 29.09.2015, Gießener Anzeiger