Sex, Drugs und Agit-Rock mit Rio Reiser - Gießener Allgemeine Zeitung

06.03.2016

Rockoper, musikalische Biografie, Musical: »Rio Reiser – König von Deutschland« ist ein bisschen von allem. Die umjubelte Premiere im Stadttheater Gießen zeigte aber auch, was es außerdem ist: der Höhepunkt der laufenden Spielzeit. Unbedingt ansehen!

Mit seiner Band »Ton Steine Scherben« war er das Sprachrohr der Linken im Deutschen Herbst. Er galt als Ikone der Hausbesetzerszene, war Aushängeschild der Grünen in ihren alternativen Anfangsjahren und wurde als Verräter gebrandmarkt, als er mit »König von Deutschland« in den Hit-Paraden auftauchte und endlich Geld verdiente: Rio Reiser. Den Lebensweg des Sängers zeichnet die gleichnamige musikalische Biografie von Heiner Kondschak nach, die Christian Lugerth mit großem Geschick und sinnvollen Ergänzungen am Stadttheater inszeniert. Ein Stück deutsche Geschichte: faszinierend, trotz der fast drei Stunden Aufführungsdauer keine Sekunde ermüdend und mit einem sich die Seele aus dem Leib singenden und spielenden Hauptdarsteller Lucas Goldbach.Am Samstag war umjubelte Premiere und schon der Blick ins Publikum machte klar, dass hier der Nerv einer Generation getroffen wird. Im ausverkauften Haus saßen auffallend viele Menschen, die in den Siebzigern mit dem Agit-Rock der »Scherben« im Ohr auf die Straße gegangen sind. »Macht kaputt, was euch kaputt macht«, der »Rauch-Haus-Song« oder »Keine Macht für niemand« waren Hymnen ihrer Zeit. Lugerth serviert sie in authentischer Rockkonzertatmosphäre (Bühne: Udo Herbster) und mit einem dem Programmheft beiliegenden Textbuch. Dabei kann er auf einen Glücksfall bauen. Im Schauspielensemble gibt es talentierte Sänger und Instrumentalisten: Rainer Hustedt am Saxofon, Milan Pešl (alias R.P.S. Lanrue) und Mirjam Sommer an den Gitarren sowie Anne-Elise Minetti am Akkordeon werden Teil der »Scherben«. Deren Grundgerüst bilden die Profimusiker Sascha Bendiks alias Jörg Schlotterer (musikalische Leitung und Arrangements), Sven Demandt als wechselnde Schlagzeuger und Christian Keul als »Scherben«-Musiker Kai Sichtermann. Alle spielen live und machen aus jedem Reiser-Song ihr eigenes Ding

Auch Lucas Goldbach erschafft aus seiner Rolle etwas ganz Eigenes. Sein Rio ist zu »Scherben«-Zeiten noch eher Randfigur, entfaltet dann immer mehr Strahlkraft und rührt am Ende seines kräftezehrenden Lebens zu Tränen. Wenn Goldbach als König von Deutschland die Wasserpfeife als Zepter und das Tambourin als Krone trägt und als toter Rio den »Junimond« besingt, dann hat er sich schon längst den Respekt des Publikums ersungen – auch wenn deutlich zu spüren ist, dass immer noch mancher im Saal den »Verrat« des Original-Rio nicht vergessen hat. Das Charisma des echten Rio kann Goldbachs Rio zwar nicht erreichen – wie auch? – doch trotzdem nimmt diese Figur gefangen, erzeugt Rio-Mania. »Ich sing für dich, ich schrei für dich, ich brenne, und ich schnei für dich« stimmt Goldbach mit Reibeisenstimme an, die an diesem Abend bis aufs Äußerste strapaziert wird. »Chapeau!«

Regisseur Lugerth erzählt Reisers Leben, indem er mehr als 20 seiner Songs mit Impressionen aus der deutschen Geschichte verwebt. Roman Kurtz gibt den smarten Zeitreiseleiter. Wenn im Bühnenhintergrund Aufnahmen von Demonstranten im Berlin der Siebzigerjahre zu sehen sind, dann sind der Deutsche Herbst, die RAF und die Hausbesetzerszene präsent. Auch ein Riesenjoint darf nicht fehlen – eine der vielen Rauchwaren, die an diesem Abend die Luft erfüllen. Selbst die frische Landluft beim Umzug der »Scherben« ins Kuhkaff Friesenhagen, wo sie sich als Ökotopisten versuchen, ist rauchgeschwängert. Und auch die Achtziger – also Reisers Solozeit, die in Kondschaks Original noch eher stiefmütterlich behandelt wird – kommen in Lugerths Version ausreichend zum Tragen: mit Mirjam Sommer als Marianne Rosenberg, Anne-Elise Minetti als Nina Hagen und (ein Brüller!) Rainer Hustedt als »Scherben«-Managerin und heutige Grünen-Frontfrau Claudia Roth.

Kurz vor elf Uhr ist es, als die »Scherben« nach frenetischem Beifall und der Zugabe »Halt dich an deiner Liebe fest« das Haus verlassen. Ein sensationeller Theaterabend geht damit zu Ende. Wer’s verpasst hat, sollte es unbedingt nachholen.

 

Karola Schepp, 06.03.2016, Gießener Allgemeine Zeitung