Stadttheater: Konzertante Aufführung der Mozartoper "La clemenza di Tito" übertrifft alle Erwartungen - Gießener Anzeiger

07.12.2015

Generalmusikdirektor Michael Hofstetter hat nicht zuviel versprochen, als er für die konzertante Aufführung der Mozartoper "La clemenza di Tito" eine "Super-Sänger-Besetzung" ankündigte. Diese Aufführung übertrifft alle Erwartungen und weist weit über die Möglichkeiten an einem relativ kleinen Haus wie dem Gießener Stadttheater hinaus. Hier blüht Wolfgang Amadeus Mozarts großartige Musik in jedem Takt, in jeder Phrase auf und beschert den Zuhörern ein rauschendes Sänger-Fest mit großen Momenten voller Intensität und Inspiration. Und das Philharmonische Orchester präsentiert sich in bestechender Form mit innigem Mozartton. Ein berührender, beglückender Abend.

Was Wunder, dass bei der Premiere am Samstag nach fast drei Stunden ein Jubelsturm durchs volle, aber nicht ausverkaufte Haus fegte. Minutenlang überhäufte das Publikum alle Beteiligten mit Beifall. Sie alle dürfen sich zu Recht über diesen triumphalen Erfolg freuen, der in keiner Sekunde die szenische Umsetzung auf der Bühne vermissen ließ. Auch ohne Kostüme und Bühnenbild war es ein prickelndes Erlebnis.

Dabei ist die 1791 komponierte Opera Seria "La clemenza di Tito" nicht unproblematisch. Sie handelt davon, wie ein fehlgeschlagener Staatsstreich zum Prüfstein für die Großherzigkeit des Kaisers Titus wird - ein typisch barockes Thema. Es war eine Auftragsarbeit aus Anlass der Krönung von Leopold II. zum König von Böhmen, und indem Mozart Titus als geradezu überirdisch reinen und gütigen Menschen darstellte, wollte er natürlich dem neuen Regenten jedwede erdenkliche Großherzigkeit zuschreiben - und sich selbst als Komponist für künftige Aufträge empfehlen. So trieft die Geschichte nur so von Edelmut: Den Verrätern verzeihen und sie begnadigen, das ist zwar sehr edel und königlich, aber unwahrscheinlich. Kritiker warfen dem Werk denn auch vor, es sei ein "Museumsstück", konventionell, kalt und langweilig.

Der mit Schwung und großem Einfühlungsvermögen dirigierende Michael Hofstetter lässt solche Vorwürfe wie Seifenblasen zerplatzen und zeigt, welch ein pulsierendes, lebendiges Meisterstück dieser "Tito" ist. Denn Mozarts Musik erzählt mit bezwingender Eindringlichkeit und Tiefe vom Innenleben der Menschen; in der Musik werden die Bühnenfiguren zu liebenden, leidenden, verzweifelten Menschen aus Fleisch und Blut. In geschickter Balance zwischen Spannung und Entspannung lässt der Dirigent die Musik fließen, und das Orchester bringt den großen Reichtum der Partitur prägnant und konzentriert zur Entfaltung. Die Gelegenheiten, sich solistisch ins beste Licht zu setzen, lassen sich die Instrumentalisten natürlich auch nicht entgehen. Die Aufführung macht zudem deutlich, dass Hofstetter sehr sängerfreundlich dirigiert, dass er in engster Abstimmung mit ihnen agiert und so den schönen Stimmen zu größtmöglicher Wirkung verhilft.

Von den Interpreten wird in diesem Werk ein Höchstmaß an Expressivität und Virtuosität verlangt. Auch dies löst die Aufführung ein. In der Titelpartie des schändlich hintergangenen Herrschers verbreitet Bernhard Bechtold tenoralen Schmelz. In Gießen durfte man ihn bereits als Idomeneo erleben. Mit seiner geschmeidigen, angenehm warm timbrierten Stimme und seinen lyrischen Qualitäten bringt er allemal die Voraussetzungen für einen Mozarttenor mit und füllt auch diese Rolle souverän aus.

An seiner Seite gibt Francesca Lombardi Mazzulli die Rächerin Vitellia - auch sie in Gießen keine Unbekannte mehr. Hier bringt sie ihren äußerst beweglichen, ausdrucksstarken Sopran zur Geltung und lässt hinter noch so kunstvollen Verzierungen ihres Gesangs eine in der Liebe verschmähte Frau erkennen, in der das Feuer der Rache lodert. Mit beklemmendem Ausdruck und leuchtenden Tönen vollzieht sie in der berühmten Arie "Non piu di fiori" (in Zwiesprache mit dem tadellos von Thomas Orthaber gespielten Bassetthorn) die Wandlung von der Furie zur mitfühlenden Frau.

Neu in Gießen ist die Sopranistin Nathalie Mittelbach von der Oper Bremen in der Hosenrolle des tragisch verliebten Sesto. Welch eine Kraft, welch eine Intensität gehen von dieser Sängerin aus. Sie ist das Kraftzentrum der ganzen Aufführung; gleichwohl verströmt ihr Sopran Herzenswärme und leuchtet die Seelenwinkel dieser zutiefst gespaltenen Figur aus. Einer der Höhepunkte des Abends ist ihre packende Arie "Parto, ma tu ben mio" (blitzsauber an der Klarinette: Anna Dehyle), in der sie die Seelenqualen und die innere Zerrissenheit des Sesto glaubwürdig zum Ausdruck bringt.

Eindringlich und differenziert gestaltet die junge Mezzosopranistin Marie Seidler die Partie des Annio. Duftende Leichtigkeit umgibt die Servilia von Naroa Intxausti, und der untadelige Publio erfährt durch Frank van Hove eine klare, angemessene Gestaltung. Der von Jan Hoffmann wie immer gut einstudierte Chor des Stadttheaters bringt sich stimmgewaltig als Volk von Rom ins Geschehen ein. 


Thomas Schmitz-Albohn, 07.12.2015, Gießener Anzeiger