Stehende Ovationen für „Penelope wartet“ - Gießener Anzeiger

22.02.2016

Der legendäre Kampf um Troja ist aus, und die Soldaten kehren heim. Doch einer fehlt: Wo ist Odysseus, der mit dem berühmten Pferd maßgeblich zum erfolgreichen Sturm der trojanischen Festung beigetragen hat? Für Gattin Penelope beginnt eine Zeit des bangen Wartens, die Tarek Assam ins Zentrum seines neuen Stückes „Penelope wartet“ rückt, das am Samstag Premiere hatte. Die Musik von John Psathas hat Herbert Gietzen arrangiert; die musikalische Leitung liegt in den Händen von Michael Hofstetter. Am Ende der Uraufführung stand ein Applaus, den man in diesen Mauern selten erlebt: Minutenlang gab es stehende Ovationen für ein Gesamtkunstwerk, das der bisherige Höhepunkt der Spielzeit ist.

 

Zuschauer mittendrin

Ithaka, irgendwann in der frühen Antike. Die Szenerie ist in Dämmerlicht getaucht. Wellen branden an die Küste, an der eine der ganz großen Geschichten um Liebe, Sehnsucht und Einsamkeit ihren Lauf nimmt. Aus dem Orchestergraben und später direkt von der Bühne fluten dramatische Klänge zwischen antike Statuen und Tänzer. Es dauert keine Minute, bis der Zuschauer mittendrin ist in dieser archaischen Welt und ihrer unglaublich dichten Atmosphäre. Sie verdankt sich dem perfekten Zusammenspiel von Musik, Bühnenoptik und Assams Choreografie, die Homers „Odyssee“ höchst intelligent ins Hier und Jetzt holt.

Denn der Ballettdirektor schafft einen neuen Zugang, indem er nicht auf die Irrfahrten des listenreichen Kämpfers, sondern auf Lieben und Leiden der Penelope fokussiert. Sie sehnt sich nicht nur nach dem vermissten Gatten. Bedrängt von Freiern, die das Erbe des Königs von Ithaka antreten wollen, sieht sich die Heldengattin ständigen Anfechtungen der Gesellschaft ausgesetzt. Auf diesen emotionalen Belagerungszustand spitzt Assam mit Mitteln des modernen Tanzes zu.

 

Starke Bilder

Das Ergebnis ist eine berauschende Choreografie voll starker Bilder, die die Gefühlsklüfte zwischen den Figuren mit Wucht auf die Bühne bringt. Eine Absage an die Antike? Keineswegs: Der Direktor der Tanzcompagnie durchsetzt sein von individuellem Lieben und Leiden geprägtes und damit zeitgemäßes Bewegungskonzept mit Elementen, die Herkunft und Zeit des Epos aufgreifen. So finden sich etwa Sirtaki-Passagen oder Anklänge an klassisches Bewegungsrepertoire. Und auch der geschärfte Blick auf schicksalhaftes Leiden einzelner entspricht der Tradition. Man denke bloß an die klassische griechische Tragödie. Nur dass Assam eben die Verantwortlichkeit der Götter aus dem Theater verbannt und durch individuelle Psychologie ersetzt. Hut ab, so modernisiert man Klassiker. Ein besonderer Clou: Passagenweise wird aus dem Zuschauerraum gespielt, und dem Choreografen gelingt es geradezu famos, dieses Mittel einzusetzen, um den Betrachter noch dichter ins Geschehen einzubinden. Kurzum, Assam hat einen beeindruckenden Zugang zur Odyssee geschaffen, den Fred Pommerehn und Gabriele Kortmann bühnenoptisch verorten.

 

Antike Tradition

Pommerehn orientiert sich am klassischen griechischen Theaterbau. Seine Bühne läuft im Hintergrund in die Konstruktion einer mehrstufigen Terrasse aus, die mit Statuen gespickt ist. In seiner puristischen Klarheit unterstützt dieses Bühnenbild geradezu famos Assams Zugang, indem es zum einen rein auf Ausstattungsebene maßvoll historisiert. Zum anderen aber greift die Struktur dieser Bühne ebenfalls antike Tradition auf: Der Zuschauerraum des Stadttheaters erhält in der Terrassenkonstruktion nämlich sein Pendant und rückt die eigentliche Bühne damit stärker in den Mittelpunkt. Auch räumlich bleibt Pommerehn damit der antiken Theatertradition treu, die die Handlung als Exempelfall stärker auf den Präsentierteller bringt. Ausgezeichnet ergänzt wird diese Konstruktion durch stimmungsvollen Licht- und Videoeinsatz sowie durch Kortmanns Kostüme, die ebenfalls ganz sanft historisieren. Vor allem setzt Kortmann aber auf zeitlose Kleidung mit militärischen Anklängen, die im Verbund mit der Bühne eine höchst runde Gesamtoptik liefern.

 

Atemberaubend

Belebt wird sie von exquisiten tänzerischen Leistungen, in allererster Linie von Magdalena Stoyanova, die der Penelope ein atemberaubendes Maß an Tiefe gibt. Voller Inspiration und Temperament ertanzt sie ihre Heldin, und allein der Blick auf die Mimik der Tänzerin macht deutlich: Sie ist Penelope. Erneut eine große Leistung von Magdalena Stoyanova, deren Bühnenehemann Odysseus Francesco Mariottini tanzt. Mit Macht und eindrucksvoller Präsenz bringt er den antiken Helden auf die Rampe, um wie Stoyanova am Ende der Premiere Extraapplaus zu erhalten. Den bekam auch Sven Krautwurst, der in wechselnden Rollen als Hund Argos, Bettler und Eurykleia seine bemerkenswerte tänzerische Klasse unter Beweis stellte. So wie der Rest des Ensembles mit Caitlin-Rae Crook, Mamiko Sakurai, Romain Arreghini, William Banks, Alberto Terribile, Yago Catalinas Heredia, Agnieszka Jachym, Kristina Norri, Skip Willcox und Yuki Kobayashi als Krieger und Frauen.

 

Nicht warten lassen

Dafür, dass das Stück auch musikalisch ein Genuss ist, sorgte in erster Linie Komponist John Psathas, dessen Kompositionen Herbert Gietzen für den Abend arrangiert hat. In der Zusammenarbeit zwischen dem langjährigen stellvertretenden Generalmusikdirektor und dem berühmten Komponisten, der unter anderem für die Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen die Musik schuf, sind dramatische und höchst anspruchsvolle Klänge entstanden, die die Bühnenhandlung tragen. Auch dank exzellenter Leistungen von Hofstetter und dem Philharmonischen Orchester. Das Fazit: Assam und die Seinen haben ein perfektes Gesamtkunstwerk geschaffen, das Freunde des Tanztheaters nicht verpassen sollten. Und für alle, die das erst noch werden wollen: Unbedingt hingehen und Penelope nicht zu lange warten lassen.


Stephan Scholz, 22.02.2016, Gießener Anzeiger