Stückentwicklung »My Self« auf der taT-Studiobühne - Gießener Allgemeine Zeitung

13.06.2016

Die Stückentwicklung »My Self« von Corinne Maier und Katharina Bill auf der taT-Studiobühne sucht Antworten auf große Fragen.


Theaterregisseure der Freien Szene haben meist am Beginn ihrer Arbeit erst einmal nur eine Mind Map vor Augen. Das Stück selbst »wird ja erst entwickelt«, hat Schauspieler Maximilian Schmidt beobachtet. So ist es auch mit der neuen Stückentwicklung »My Self«, die Corinne Maier und Katharina Bill auf der taT-Studiobühne zeigen. Hier untersuchen Schmidt und seine Kollegen Anne-Elise Minetti und Roman Kurtz die Rolle des Ichs in einer Zeit, in der sich Identitäten an die Gegebenheiten anpassen (müssen). »Das Ich ist nicht das, was es ist, sondern wie es sich zeigt«, heißt es im Programmheft. Das klingt erst einmal reichlich bedeutungsschwanger und lässt einen anstrengenden Theaterabend vermuten.

Und tatsächlich, zu Beginn der Vorstellung erhalten solche Befürchtungen Nahrung: ein vom Schauspielhaus Graz geliehenes karg-heruntergekommenes Bühnenbild, das obligatorische über die Bühne Schreiten mit spitzen Schreien, der zunehmend dröhnende Sound (Sounddesign: Rupert Jaud). Doch weil das Regieteam in seiner ersten Arbeit für das Stadttheater sich und die selbstgewählte Aufgabenstellung nicht bierernst nimmt, entwickelt sich das Stück doch noch zu einer erfrischenden Mischung aus Performance, Schauspiel und klassischer Klipp-Klapp-Komödie.

Der Kostümfundus bietet jede Menge Material für Kostümwechsel im Minutentakt: Schmidt als Mäuschen aus dem Weihnachtsmärchen, Kurtz als Degen schwingender Versedeklamierer, Minetti als posende Musicaldarstellerin zeigen, wie wandlungsfähig Schauspieler sein müssen. Doch bleibt bei den verwirrenden Regieanweisungen, die aus dem Off erklingen, nicht das Ich, also die eigene Identität der Schauspieler, auf der Strecke? Sind sie nicht eher nur Marionetten und Projektionsfläche als eigenständige Persönlichkeiten? Den Launen der diversen Regisseure und dem Urteil des Publikums und der Kritiker gnadenlos ausgeliefert? Nicht umsonst assoziiert die weiße Wand des Bühnenbildes eine Leinwand, auf der ein Bild entworfen wird.

Hier jedoch gelingt es den Schauspielern, sich von den scheinbar formalen Vorgaben ihres Berufes zu befreien. Sich nicht zu verstellen, sondern als eigenständige Persönlichkeiten vorzustellen. Auch wenn Kurtz betont, beim Spielen die »Figuren durchdringen« zu wollen, Minetti sich ihrer Rolle »zärtlich nähert« und Schmidt zugibt, auch durchaus ein zufriedener Postbote sein zu können – sie alle geben mit ihren privaten Geschichten Einblick in das, was sie antreibt und ausmacht. Wenn Anne-Elise Minetti die an einem imaginären Tisch versammelten Mitglieder ihrer berühmten Schauspielerfamilie spielt, dann ist das wie ein Blick in das private Fotoalbum von Bernhard Minetti, den man als Einspieler hört. Und auch Roman Kurtz lässt tief blicken, wenn er erzählt, warum er erst als längst erwachsener Mann die akademische Laufbahn gegen das Spielen auf der Bühne eingetauscht hat.

Nach eher sprödem Beginn entwickelt sich »My Self«, das zu Beginn der Stückentwicklung noch »I« hieß, also zum beeindruckenden Blick in die Köpfe und Herzen der Schauspieler, die in andere Identitäten schlüpfen, ohne sich selbst zu verlieren. Den Schauspielern, die sich lustvoll auf dieses Spiel einlassen, sei Dank. Und dem Regieteam, das dieses Spiel leichthändig steuert.

Was aber nur bedingt gelingt, ist die Übertragung der Suche nach »My Self« von der Bühne ins »echte« Leben. Den Spagat zwischen Identität und Image meistern zwar auch die Zuschauer in ihrem Alltag. Doch weil dies im Beruf des Schauspielers auf die Spitze getrieben wird, fällt es schwer, echte Parallelen zwischen dem Gehörten und dem eigenen Erleben zu finden.


Karola Schepp, 13.06.2016, Gießener Allgemeine Zeitung