Viel zu schön für all das Grauen: "Titus Andronicus" nach einem Drama von William Shakespeare ist ein Tanzabend, der gespaltene Gefühle hervorruft. Jetzt ist die blutrünstige Geschichte um Mord und Vergewaltigung in der Moderne angekommen. Die Tanzcompagnie Gießen präsentierte sie unter Leitung von Tarek Assam in einer stürmisch gefeierten Premiere im großen Haus.
Glanzleistungen nicht nur der Tänzer waren das, sondern auch des philharmonischen Orchesters unter Leitung von Martin Spahr. Die Musiker begleiteten die tänzerische Darbietung mit einer Komposition von "48nord". Bühnenbildner Fred Pommerehn und Kostümbildnerin Gabriele Kortmann drückten der Aufführung ihren kreativen Stempel auf, auch ihnen galt der Applaus des Publikums.
Über Jahrhunderte hinweg wollten Literaturkritiker und Theaterfreunde nicht glauben, dass "der Titus" tatsächlich von William Shakespeare stammt. Doch, es handelt sich um eines seiner frühen Stücke, und die Menschen der elisabethanischen Gesellschaft jubelten bei den Aufführungen auf den Marktplätzen. Jetzt dient "Titus Andronicus" als Grundlage für modernes Tanztheater in Gießen, im Zeichen der von Dramaturgin Maite Beisser initiierten Reihe "Literatur und Tanz". Und es ist einiges von Shakespeares Originaltexten zu hören, vornehmlich aus dem Mund des Countertenors Zvi Emanuel-Marial, der, in der zwielichtigen Rolle des Aaron, die Tänzer auf seinem Hoverboard umkreist und Renaissance-Lieder mit Shakespeare-Texten singt.
Der Verdienst des Komponistentrios 48nord aus München ist es, souverän die klassische Musik mit modernen elektronischen Klängen zu verbinden. Orchesterleiter Martin Spahr hat bei der Komposition mitgearbeitet: So ist die Musik nun wie maßgeschneidert für das Symphonische Orchester Gießen, das in voller Besetzung angetreten ist. Ein Sound wie im Kino, wenn Bläser und Streicher richtig loslegen. Und ganz auf einen alten Western in schwarz-weiß ist auch die gesamte Szenerie auf der Bühne abgestimmt, bis zum furiosen Finale, als Titus Andronicus seine Pistole zückt und die Überlebenden umlegt.
Was geht hier vor? Titus Andronicus kehrt siegreich aus einer Schlacht gegen die Goten zurück. Zu Hause erwarten ihn seine Tochter Lavinia und zwei Söhne des Kaisers. Fünf Gefangene bringt er mit: die geschlagene Königin Tamora, ihren heimlichen Geliebten Aaron sowie ihre drei Söhne. Als erstes tötet Titus den ältesten Sohn Tamoras, um seine eigenen in der Schlacht gefallenen Söhne zu sühnen. Das schreit nach Rache. Aaron stachelt die Söhne Tamoras auf, Lavinia zu vergewaltigen. Die Täter reißen ihr die Zunge heraus und hacken ihre Hände ab, damit sie ihre Namen nicht preisgeben kann. Doch Lavinia schreibt die Namen mit einem Stock in den Sand.
Für die Tanzcompagnie Gießen bietet die erste Szene Gelegenheit für eine aktionsreiche Kampfszene. Römer gegen Goten, ein Familienclan gegen den anderen: Das Getümmel auf der Bühne zeigt an manchen Stellen eine strategische Schlacht, an anderen Stellen Chaos pur. Höchste Anforderungen an die Tänzer, was Schnelligkeit und Koordination betrifft. Gelegenheit auch, die Solisten vorzustellen: Sven Krautwurst ist als Titus ein im Grunde geradliniger Feldherr, dem die Ereignisse über den Kopf wachsen und der im wahrsten Sinne des Wortes ausrastet. Ziel seiner Rache ist Königin Tamora, souverän getanzt von Magdalena Stoyanova, die nun ihrerseits ewige Rache schwört. "Familie ist wichtig", hier wird die Stimme von Petra Soltau aus dem Off eingeschaltet.
Eine nur scheinbar fröhliche Szene ist die Hochzeit von Tamora und Saturnius (Iacopa Loliva). Es regnet viele Blumen, doch da die Ehe nur dem Machterhalt dient, ist auch der tänzerische Duktus der Brautleute eher aggressiv als zärtlich. Als Römer und Goten sind mit dabei: Maria Adriana Dornio, Agnieszka Jachym, Lara Kleinrensink, Mamiko Sakurai, Clara Thierry, Skip Willcox und Marcel Casablanca Martínez. Eine anrührende Lavinia gibt Caitlin-Rae Crook zunächst im vergnügten Liebesspiel mit ihrem Freund Bassanius (Douglas Evangelista), später als grausam gequältes Vergewaltigungsopfer. Details bleiben den Zuschauern erspart.
Doch der Höhepunkt der Rache steht noch bevor: Die beiden Vergewaltiger Demetrius (Yusuke Inoue) und Chiron (Lorenzo Rispolano) werden von Titus getötet, ihre Körper zerteilt und in einer Pastete verarbeitet, die der Mutter und allen anderen bei einem Festmahl angeboten wird. Die dekadente römische Gesellschaft par excellence! Auch diese Szene ist zuschauerfreundlich inszeniert. Die Überreste der jungen Burschen als rote Filzkügelchen - das tut keinem weh.
Bühnenbildner Fred Pommerehn schafft mit seiner glitzernden Metallinstallation sowie einer imposanten, acht mal vier Meter großen verspiegelten Brücke, die sich in verschiedene Richtungen drehen lässt, ein beeindruckendes Spielfeld.
Und Kostümbildnerin Gabriele Kortmann steckt die Akteure auf der Bühne nicht in Rüstungen aus der Römerzeit, sondern ganz modern in Lack und Leder. Echte Eye-Catcher.
Ursula Hahn-Grimm, 20.02.2017, Gießener Anzeiger