"Der Krieg ist nicht tot, er schläft nur". Dieses todtraurige Lied von Rio Reiser erklingt am Ende der szenischen Produktion "Flüchten oder standhalten" über das Werk und das Vermächtnis von Horst-Eberhard Richter. Auch am Anfang des Theaterabends steht der Krieg, Bilder von 1945 aus dem zerstörten Berlin. Das hinterlässt eine gedrückte Stimmung, weil es nur allzu zu gut in die gefährdete politische Lage der Gegenwart passt. Euphorie brach deshalb am Ende des Premierenabends in der Studiobühne taT nicht aus. Gleichwohl lang anhaltender, anerkennender Applaus für Christian Lugerth (Inszenierung) und Matthias Schubert (Dramaturgie) sowie die vier Darsteller Marlene Sophie Haagen, Barbara Stollhans, Ulrich Cyran und Maximilian Schmidt.
Es ist ein mutiges Vorhaben, das umfangreiche Lebenswerk dieses agilen, ambitionierten Mannes in einem 80-Minuten-Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Arzt, Psychoanalytiker, Begründer des psychosomatischen Instituts - die Arbeit Richters ist eng mit Gießen verbunden. Hier wirkte er als Professor, hier engagierte er sich in sozialen Projekten wie am Eulenkopf. Zugleich prägte er wie kaum ein anderer die deutsche Friedensbewegung.
"Das Fehlende ist eine Tatsache, dessen wir uns bewusst sind", sagt deshalb gleich zu Beginn die Stimme von Christian Lugerth aus dem Off.
Zwei junge Leute stürmen auf die Bühne. Die junge Frau (lebhaft und präsent: Marlene-Sophie Haagen) liest aus ihrem imaginierten Smartphone Richters Lebensdaten vor. Aufmerksam und zugewandt spielt Maximilian Schmidt den Freund, Kommilitonen, Studenten. Eine riesige Bücherwand ist im Hintergrund auf der Leinwand zu sehen. "Die Gruppe", "Flüchten oder Standhalten", "Engagierte Analysen", um nur einige zu nennen. Zu hören sind in dieser ersten Szene Nachrufe von 2011/2012.
Gießens Ehrenbürger ist am 19. Dezember 2011 gestorben. Er wäre gern auf dem Alten Friedhof beerdigt worden. Die Stadt Gießen ließ sich viel Zeit mit der Genehmigung, ist im Programmheft zu lesen. Als die Genehmigung doch noch erfolgte, hatte sich die Familie bereits für den Berliner Waldfriedhof entschieden.
In Berlin war Richter am 28. April 1923 geboren worden. In die ausgebombte Großstadt führt die zweite Szene des Theaterstücks zurück, Richter hatte als junger Mensch an der Ostfront gekämpft, war in Gefangenschaft geraten und kehrte erst 1946 nach Hause zurück. Dort musste er erfahren, dass beide Eltern von russischen Soldaten getötet worden waren.
Das Theaterstück widmet den folgenden Berliner Jahren gleich vier Szenen: Wie er seine Frau Bergrun kennenlernt, die Hochzeit, die Geburt der Kinder. Das junge Ehepaar wird von den jungen Schauspielern dargestellt, das Ehepaar in späteren Jahren von den Gastschauspielern Ulrich Cyran und Barbara Stollhans. Cyran verleiht Richter Stimme und Gestalt, ohne allerdings seine charismatische Ausstrahlung wiedergeben zu können. Richter hat Hunderte von Studenten begeistert, ganze Generationen von jungen Analytikern und Sozialarbeitern zu Anhängern werden lassen. Das ist in dieser Aufführung nicht ganz nachzuvollziehen, wobei nicht gesagt werden soll, dass die Figuren eins zu eins nachgestellt werden müssten.
Witwe im Publikum
Eine schwierige Rolle hat Barbara Stollhans. Einerseits spricht sie, wie auch die anderen Schauspieler, Texte von Horst-Eberhard Richter, andererseits übernimmt sie die Rolle der Witwe Bergrun Richter, die an diesem Premierenabend auch mit einem Teil der Familie im Publikum sitzt. Bergrun Richter war es nicht leicht gefallen, ihrem Mann in den frühen 60er Jahren nach Gießen zu folgen, wo dieser das Institut für Psychoanalyse und Psychosomatik aufbaute.
Unbekannte Bilder aus dem Gießen der 50er und 60er Jahre vermitteln einen Eindruck der Stadt, wie sie damals ausgesehen hat. Die gelungenen Videoprojektionen und Toneinspielungen sind Antonia Alessia Virginia Beeskow zu verdanken. Das Bühnenbild mit Stühlen, Tischen, und Bänken, die flexibel einsetzbar sind als Einrichtung für ein Wohnzimmer, einen Hörsaal oder ein Analytikerzimmer hat sich Denise Schneider einfallen lassen.
Insgesamt haben Lugerth und Schubert 17 Szenen zusammengestellt. Nicht fehlen darf dabei der "Gießen-Test", der dem Stück auch den Untertitel gibt: Selbstbild-Fremdbild, wie weit können diese doch auseinanderliegen. Die Schauspieler bringen dieses Phänomen unter einer großen Zahlenskala deutlich zum Ausdruck.
Die geliebte Schweizer Bergwelt ist auf der Bühne verkleinert wiederzufinden als ein Holzturm mit Leiter, hier rezitiert Richter Erinnerungen, das Matterhorn ist im Hintergrund auf einem Lichtbild zu sehen,
Noch eine andere Szene: Boxend bringen sich die jungen Leute einige wichtige Aussagen aus dem Klassiker "Die Gruppe" näher. Amüsant und lehrreich erweist sich "Der SPD-Flüsterer": Brandt, Schmidt und Lafontaine auf der Couch. Allzu turbulent wird es beim Versuch "dem Neoliberalismus zu trotzen".
"Flüchten oder standhalten" ist im Grund eine Werkschau aus den 50 ungemein kreativen Jahren Richters in Gießen, von denen nicht nur seine Bücher zeugen, sondern auch Zeitungsartikel, Fernsehausschnitte und Berichte von Zeitgenossen.
Ursula Hahn-Grimm, 24.04.2017, Gießener Anzeiger