Die Kinder müssen sich noch ein paar Tage gedulden, aber für die Erwachsenen ist im Stadttheater schon das Weihnachtsmärchen angelaufen. "Ab in den Wald" ist ein grell-buntes Spektakel, das die einen jubeln lässt und bei den anderen allenfalls ein mattes Kopfschütteln hervorruft. Man muss Musicals und die hemdsärmelige amerikanische Art, Geschichten zu erzählen, schon sehr mögen, wenn einem dieser Abend gefallen soll. Bei der Premiere am Samstag waren die Musicalfans im voll besetzten Haus eindeutig in der Überzahl: Sie johlten minutenlang und überschütteten alle Beteiligten der Produktion lautstark mit Beifall.
Die Besucher erleben eine flotte Inszenierung (Cathérine Miville) in einem fantastischen Bühnenbild (Lukas Noll), und die durchweg hervorragenden, zum Teil noch recht jungen Darsteller machen ihre Sache sehr gut. Aber das Stück (Musik: Stephen Sondheim, Textbuch: James Lapine) schwächelt und zieht sich wie Kaugummi, dass selbst die liebevollste Regie an ihre Grenzen stoßen muss.Die größte Schwachstelle ist dabei die Musik selbst. Ohrwürmer, wie zum Beispiel bei Andrew Lloyd Webber, sucht man hier vergebens. Bis auf den Kehrreim "Ab in den Wald" gibt es keine Melodie, die haften bliebe. Musical-Spezialist Andreas Kowalewitz und das von ihm geleitete Philharmonische Orchester Gießen mögen sich im Orchestergraben mit der Partitur noch so sehr mühen, aber aus der sperrigen Musik lassen sich keine Funken schlagen.
"Es wird nach einem Happy End/ im Film jewöhnlich abjeblendt", berlinerte Kurt Tucholsky in seinem 1930 entstandenen Gedicht "Danach". Darin ging er auf seine unnachahmlich witzige Weise der Frage nach, was nach dem Happy End - nach Kuss und Bett und alledem - geschieht. Was er sich dazu in fünf Strophen ausmalte, enthält sehr viel Wahrheit über das Leben und spiegelt einen grauen, kümmerlichen Ehealltag wider.
Ähnlich wie Tucholsky warfen auch Stephen Sondheim und sein Textbuchautor James Lapine ein halbes Jahrhundert später die Frage auf, wie es wohl in den Grimm'schen Märchen zugeht, wenn alle Wünsche erfüllt werden. Also: Aschenputtel erobert das Herz des Prinzen, Hans findet ein Land voller Gold, Rapunzel schafft es mit Hilfe eines schönen Prinzen, aus ihrem Turm zu entkommen, und der sehnliche Wunsch des Bäckerpaares nach einem Kind geht auch in Erfüllung. Doch was dann?
Im zweiten Teil geht es um die Konsequenzen, von denen die alten Märchen nichts erzählen: Wie lebt es sich mit einem Prinzen, wie mit dem lange ersehnten Kind? Was fängt man mit dem ganzen Gold an? Und was treibt die Bäckerin dazu, die doch jetzt eigentlich glücklich sein müsste, mit dem Prinzen fremdzugehen?
Es geht nicht nur um ersehnte Dinge, sondern um die Neigung des Menschen, stets das zu wollen, was er nicht hat, es geht um Verführung, um Gut und Böse. Lukas Noll hat dazu einen Märchenwald mit großen stilisierten Scherenschnitten (Blumen, Pilze, Tannen) geschaffen, wie man sie als Illustrationen aus alten Märchenbüchern kennt. Das Übrige besorgt die Lichtregie (Kati Moritz), die die Szenerie je nach Stimmung in die unterschiedlichsten Farben taucht.
Beklemmend dunkel ist es, als eine Riesin zum Schluss das ganze Königreich bedroht. Bis dahin ist aber das halbe Grimm'sche Märchenpersonal schon tot, und die übrigen streiten sich unentwegt. Von Harmonie keine Spur. Die Regisseurin geht mit Witz und ironischen Anspielungen sehr sparsam um, damit das Geschehen nicht im Klamauk versumpft. Gelungener Gag: Aschenputtels Prinz (Christian Fröhlich), der ja ein großer Frauenverführer ist, kommt auf einem Sperrholz-Pferd geritten, an dem eine Metallleiter montiert ist. So kommen die Damen - und natürlich auch Aschenputtel (Patrizia Margagliotta) - leichter aufs Ross. Schrill und komisch Aschenputtels missgünstige Verwandtschaft (Anne-Elise Minetti, Marie Seidler, Irina Ries).
Mit schöner, klarer Stimme und starker Bühnenpräsenz gibt die aus Gießen stammende Julia Lißl als Bäckerin eine beeindruckende Vorstellung, zumal diese Rolle den Interpretinnen sehr viel sängerisches Können abverlangt. Den Bäcker an ihrer Seite spielt Andrea M. Pagani, den das Gießener Publikum seit "Cabaret" und "Kuss der Spinnenfrau" ins Herz geschlossen hat. Auch hier glänzt er wieder mit einer weichen, gefühlvollen Gestaltung. Mit einer großen Stimme voller Ausstrahlung schaltet sich Laura Joeken als Hexe und später als Glamourschönheit ins Geschehen ein. Von besonderem Liebreiz ist das Rotkäppchen, das die Wetzlarer Schülerin Rebecca Kaufmann mit Natürlichkeit und kämpferischem Elan ausstattet. Und sie singt ganz famos. Spitzentöne sind von Rapunzel (Karola Pavone) zu hören, bis sie endlich ihren joggenden und golfspielenden Prinzen (Thomas Christ) hat. Auch Tom Schimon lässt als Hans aufhorchen.
Bei den Mitwirkenden dürfen Carolin Weber als energische Mutter von Hans und Christian Lugerth als Erzähler und geheimnisvoller Waldschrat mit Rauschebart nicht vergessen werden.
Thomas Schmitz-Albohn, 31.10.2016, Gießener Anzeiger