Es wird düster auf der Bühne im Großen Haus, wo sich derzeit die drei Choreografen Tarek Assam, Jacek Przybylowicz und James Wilton mit Edgar Allan Poes Erzählung "Der Untergang des Hauses Usher" auseinandersetzen. Das Ergebnis ist der dreiteilige Tanzabend "All we see", der am Samstag uraufgeführt wurde und für kräftigen Beifall des Publikums sorgte. Kein Wunder, denn die Künstler haben mit dem Ensemble der Tanzcompagnie einen Dreiteiler geschaffen, der mit emotional dichter Atmosphäre, akrobatischen Elementen und prickelnden Bildern betört. Um es so zu sagen: Ein weiterer Triumph der Compagnie, der Poe im besten Sinne fühlbar macht.
Um dem Zuschauer dieses Gefühlserlebnis zu ermöglichen, haben die Choreografen auf drei ganz unterschiedliche motivische Zugänge zum Geschehen der morbiden Erzählung gesetzt. Ballettdirektor Assam bringt in seinem Teil "Similitude - Ähnlichkeit" die mögliche Vorgeschichte auf der Bühne. Er folgt der Spur eines Inzestes der Geschwister Usher, bevor Wilton in "The Frail - Der Gebrechliche" dem Icherzähler in den Kopf guckt. Es geht um Wahn, es geht um geistige Zerrüttung in dem Stück des Choreografen, der als Gast am Stadttheater bereits bestens bekannt ist. Dritter im Bunde ist mit seinem Schlussteil "Mystic Vapor - Mystischer Dunst" Przybylowicz, der einen erneuten Perspektivenwechsel vornimmt. Er rückt den Zuschauer in die Erzählerrolle, indem er das Umfeld des Erzählers auf der Bühne transparent macht. Alle drei Teile setzen auf das gelungene Bühnenbild von Katja Wetzel, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet. Und wollte man die gesamte Bühnenoptik auf einen gemeinsamen Nenner bringen, dann wäre das: zurückgenommen. Auf der Bühne selbst, die im Grunde bloß mit einer Art großer schwebender Rahmenkonstruktion versehen ist, lässt die Ausstatterin den Tänzern viel Raum, und auch die Kostüme sind eher schlicht und rudimentär. Ein wirklich gelungener Ansatz, fokussieren doch alle drei Choreografen stark auf emotional-grauenhaftes Geschehen, dem ein Zuviel an Ausstattung nicht gutgetan hätte. In mancher Verfilmung lässt sich das beobachten: Zuviel gegenständliche Ausstattung reduziert Meister Poe auf schnöden Horror. Genau diese Vereinfachung vermeiden Wetzel und die Choreografen mit Ausstattungspurismus und Fokussierung auf den Tanz, die dem Zuschauer sehr gekonnt den Zugang zu den Gefühlswelten Poescher Prägung eröffnen.
Ein bemerkenswerter Ansatz, für den man gute Darsteller braucht. Und es ist ja längst bekannt, dass die Tanzcompagnie reichlich über solche Künstler verfügt, von denen diesmal Caitlin-Rae Crook, Maria Adriana Dornio, Agnieszka Jachym, Lara Kleinrensink, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Clara Thierry, Skip Willcox, Marcel Casablanca Martínez, Douglas Evangelista, Yusuke Inoue, Sven Krautwurst, Iacopo Loliva und Lorenzo Rispolano auf der Bühne stehen. Alle drei Choreografien setzten auf das jeweils höchst effektiv inszenierte Spiel mit der Masse in teils opulenten Bilden, um die jeweiligen emotionalen Aggregatzustände auch an den Hauptfiguren zu demonstrieren. Bei Assam sind das Sakurai als "She is" und Rispolano als "He is". Voller Tiefe und Anmut tanzen sie sich auf die Fährte des geschwisterlichen Inzests, wofür es am Ende kräftigen Applaus gab. Den bekamen auch Stoyanova, Krautwurst und Loliva für ihre mitreißende Performance in "The Frail", die den Wahn in einer energiegeladenen Bewegungssprache transparent macht. Als Dritter im Bunde setzt Przybylowicz in seinem "Mystic Vapor" als zusätzliches Element auf Harald Pfeiffer als Erzähler, der aus dem Off das Gedicht "Das Geisterschloss" vorträgt. Erneut sind es Krautwurst und Stoyanova, die mit bemerkenswertem Ausdruck zu Werke gehen. Kurzum, ein rundum gelungener Abend im Großen Haus, den Tanzfreunde und solche, die es werden wollen, nicht verpassen sollten.
Stephan Scholz, 10.10.2016, Gießener Anzeiger