Sehr häufig ist es problematisch, Romane als Theaterstücke auf die Bühne zu bringen. Eine der größten Gefahren liegt darin, dass solche Dramen zu textlastig und monologisch werden und die Aktion zu kurz kommt. Erneut ist das am Samstag zu beobachten gewesen, als "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" nach dem Roman von Mark Haddon in einer Bühnenfassung von Simon Stephens am Stadttheater Premiere hatte. Am Ende gab es dennoch kräftigen Applaus für die Inszenierung von Abdul-M. Kunze mit Licht- und Schattenseiten, in denen sich das Problem der Bühnenumsetzung von Prosatexten spiegelt.
Blick aufs Leben
Hund Wellington ist tot, erstochen mit einer Mistgabel. Unschuldig gerät der autistische Junge Christopher Boone in Verdacht, der sogleich die Ermittlungen aufnimmt. Was als Kriminalgeschichte beginnt, wird im Verlauf des Abends immer stärker zu einem Blick auf das Leben von Hauptfigur Christopher, seine Bewältigungsstrategien und Sicht auf die Welt. Kunze nähert sich dieser Entwicklung seines Protagonisten in den beiden Teilen des Abends auf höchst unterschiedliche Weise. Am Anfang ist die Bühnensituation von einem hohen und sehr textlastigen Abstraktionsgrad geprägt. Der Zuschauer wird in Christophers Welt eingeführt, indem der Regisseur unter anderem das Ensemble dazu nutzt, Zahlenfolgen, die sich der Junge in Stresssituationen hersagt, im Chor auf die Rampe zu bringen.
Im Fokus steht Christophers Innenleben, das auch im Gespräch mit einer Art Erzählerin aufgerollt wird. Teil zwei ist dagegen deutlich von Interaktion geprägt, denn jetzt rückt die Außenwelt des Helden in den Fokus. Katja Wetzel hat das Geschehen auf einer eher abstrakten Bühne verortet, die lange Zeit von einer großen Rückwand mit Luken geprägt ist. Podeste und Bodengitter strukturieren die Szenerie, die, und das ist ein besonders gelungener Einfall der Ausstattung, ein ums andere Mal von der symbolischen Anordnung von Koffern ergänzt wird. Ein Beispiel: Durch das geschickte Stapeln wird ein christliches Kreuz gebaut, das den Kontext in einer Szene mit einem Pfarrer bildet. Bei den Kostümen ist Anika Klippstein angemessen funktional und setzt unter anderem auf Straßenbekleidung.
Damit zum ersten Fazit und der Frage nach Licht und Schatten. Der erste Teil des Abends ist die Schattenseite, denn auch wenn sich Kunze durch inszenatorische Kniffe bemüht, Tempo aufkommen zu lassen, gelingt das nicht. Es fehlt an echter Interaktion zwischen den Akteuren. Die monolithische Textlastigkeit vor der Pause lässt das Ganze gerade in dieser abstrakten Kulisse eher zu einem aufgewerteten Rezitationsabend werden, dem theatrale Bühnentugenden fehlen. Der Abend droht zu verflachen - wäre da nicht der zweite Teil. Er glänzt als die Lichtseite, denn jetzt interagieren die Schauspieler wirklich.
Schauspielerische Leistung
Es gehört zur Fairness zu betonen: Maximilian Schmidt ist als Christopher dasjenige Licht an diesem Abend, das von der ersten bis zur letzten Minute leuchtet. Mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen gelingt es ihm, sich authentisch in die Figur des Christopher zu versetzen, und es ist nicht zu hoch gegriffen, von einer sehr guten schauspielerischen Leistung zu sprechen. Die entwickelt sich gerade im zweiten Teil ausgezeichnet, als Christopher sich mit seiner Mutter Judy, gespielt von Beatrice Boca, auseinandersetzt. Auch Boca macht als Mutter eine gute Figur im Austausch mit ihrem Sohn. Gerade das Duo Schmidt/Boca und das feine Charakterspiel der beiden macht mal wieder deutlich, welches Potenzial im Gießener Schauspielensemble steckt. Das zeigt auch Anne-Elise Minetti, die als Siobhan eine Art Erzählerfunktion - auch im Dialog mit Christopher - hat. In wechselnden Rollen schlagen sich Rainer Hustedt, Petra Soltau, Harald Pfeifer, Milan Pešl und Thomas Wild mehr als solide.
Damit zum Gesamtfazit des Abends, der inklusive Pause zwei Stunden und 15 Minuten dauert: Der erste Teil mit Fokus auf die Innensicht von Christopher zeigt die großen Gefahren der Textlastigkeit von dramatisierten Romanen, die der Bühne nicht guttun. Hier hätte Kunze noch kreativer sein müssen und mehr inszenatorische Finesse in den Handlungsverlauf bringen können, um ihr bühnengerechte Vitalität einzuhauchen. Beim Teil zwei hat der Regisseur dagegen alles richtig gemacht, und es ist pures Theatervergnügen, dabei zuzusehen, wie sich die Akteure auf der Bühne reiben.
Stephan Scholz , 06.03.2017, Gießener Anzeiger