Überdrehte Komödie mit viel Musik: Premiere von "Die Affäre Rue de Lourcine" am Stadttheater
"Wer nur Wasser trinkt, hat vor seinen Mitmenschen etwas zu verbergen." So formulierte es der stets nach dem nächsten Rausch dürstende Dichter Charles Baudelaire. Sein Landsmann und Zeitgenosse Eugène Labiche (1815- 1888) hingegen sah die Sache genau andersherum - und machte die Wirkung von zuviel Wein und Schnaps zum Ausgangspunkt einer wahnwitzigen Vertuschungsaktion. Seine im Jahr 1857 entstandene Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" hatte in der Regie von Thomas Goritzki am Sonntagabend im Großen Haus des Stadttheaters Premiere.
Der Diener gibt in dieser überdrehten Inszenierung den Ton der kommenden rund 90 Minuten Spielzeit vor. Der mit seinen strähnigen langen Haaren an den verschlagenen Riff Raff aus der "Rocky Horror Picture Show" erinnernde Jaques (Pascal Thomas) rotzt in die offene Wasserkaraffe, hustet auf den abgelegten Anzug und trinkt ungeniert den Schnaps seines schlummernden Arbeitgebers Lenglumé (Tom Wild). Respekt hat Jaques jedenfalls keinen vor diesem Mann, der da am späten Morgen hinter den Vorhängen eines prächtigen Himmelbetts vermutlich seinen ersten heftigen Rausch ausschläft.
Filmriss mit Folgen
Der Unterschied: Lenglumé wacht nach einem feuchtfröhlichen Klassentreffen diesmal nicht nur mit dickem Schädel, sondern auch gemeinsam mit seinem fast vergessenen Schulfreund Mistingue (Roman Kurtz) auf, was gerade noch vor der resoluten Hausherrin (Carolin Weber) vertuscht werden kann. Doch dann kommt beim gemeinsamen Frühstück eine 20 Jahre alte Zeitung ins pointenreiche Spiel, in der ein Mord beschrieben wird, den das Männderparr aufgrund diverser Indizien und seiner gleichzeitigen Gedächtnislücken auf sich bezieht, beziehen muss. Und schon beginnt ihr zunehmend verzweifelter wie bald auch immer skrupelloserer Versuch, alle sich auftuenden Spuren der vermeintlichen Mordtat zu verwischen.
Regisseur Goritzki und Bühnenbildnerin Katja Wetzel bedienen sich für diesen Lustspielstoff eines klassischen Stilmittels: der Tür. Acht (!) sind es insgesamt, durch die ins Schlafzimmer geschlurft, gerannt, gestolpert und geflohen wird. Immer wieder mit dem richtigen Timing, sodass manch schöner optischer Effekt entsteht. Überhaupt ist eine Menge los auf der Bühne des Großen Hauses, das viel Spielfreude ausstrahlende Ensemble hält das einmal angeschlagene Tempo dauerhaft hoch. Dazu zählt auch der etwas schmierige Potard (Milan Pešl), der dem Geschehen unfreiwillig eine weitere verwirrende Drehung hinzufügt.
Strukturiert wird das Ganze von kleinen musikalischen Nummern, die ein irgendwann im Himmelbett auftauchendes Streichertrio (Helena Mach, Sophie Richter, Axel Lis) intoniert. Laut Regisseur Goritzki wird dieser Teil der Vorlage in den meisten Labiche-Inszenierungen gestrichen, er selbst hatte aber das Privileg, sich das Libretto des Dramatikers von Martin Spahr, dem Musikalischen Leiter der Schauspielsparte, vertonen zu lassen. Und dem Komponisten und seinen Musikern gelingen einige feine kleine Couplets, die sich harmonisch in die Gehörgänge des Publikums schmiegen.
Da macht es auch nichts, dass die Stimmen der Schauspieler zumeist etwas windschief durch die Gießener Theaterluft wehen. Spätestens ein kurz vor der Pause angestimmter Kanon entwickelt sich zum vertiablen Ohrwurm - der schlüssigerweise nach der Unterbrechung gleich wieder fortgesetzt wird und damit für einen perfekten Übergang sorgt.
So bietet diese Inszenierung der von Elfriede Jelinek übersetzten Vorlage mit ihren zahlreichen Gags und manchem inszenatorischen Kniff kurzweilige Unterhaltung. Wer mag, darf sich darüber hinaus noch einen Gedanken über die Verlogenheit des Spießbürgertums und die dünne Schicht ihrer Zivilisiertheit machen - Themen, die Regisseur Goritzki gegen Ende vorsichtig antippt. Man kann aber auch sein Vergnügen daran haben, ohne sich länger mit solchen Doppelbödigkeiten zu beschäftigen.
Björn Gauges, 14.11.2017, Gießener Anzeiger