Wie singt der Indianer? Was hat ein Amerikaner in Paris zu suchen? Und wer beantwortet die Frage aller Fragen? Im Stadttheater unternimmt Chefdirigent Michael Hofstetter mit seinem Orchester vor der Sommerpause einen Ausflug über den Atlantik.
So allmählich findet er Gefallen am üppigen Klangbild. Als Spezialist für die historisch informierte Aufführungspraxis gefeiert und als Fachmann für die Epochen Barock und Klassik anerkannt, freundet sich Generalmusikdirektor Michael Hofstetter in Gießen nicht nur mit der Moderne an, sondern auch immer mehr mit der Romantik. Beim letzten Konzert in dieser Spielzeit gibt sich der Dirigent am Dienstagabend im Großen Haus des Stadttheaters schwelgerisch und präsentiert nach der Pause die 9. Sinfonie »Aus der Neuen Welt« von Antonín Dvorák in einem lupenreinen Klangbild – der Höhepunkt des Abends und eines der Saison-Highlights.
Viele der unzähligen Themen und Motive seiner letzten Sinfonie lauscht Dvorák den Indianern ab, als er Anfang der 1890er Jahre in Amerika arbeitet und das Werk dort komponiert. Hofstetter widmet sich gewohnt sorgfältig dem Notenmaterial, schon im ersten impulsiven Satz liegt die Weite der Prärie vor den Augen der Zuhörer. Das Philharmonische Orchester Gießen musiziert wie entfesselt. Die famosen Holzbläser leisten Unerhörtes, Hörner, Posaunen und Trompeten ergänzen dramatisch. Die Streicher zeigen wieder einmal ihre im Wortsinn besten Saiten.
Den zu Herzen gehenden zweiten Satz, das Largo, fängt Hofstetter mit viel Geduld ein, sogar die Pausen genießt er weidlich. Im Scherzo und im finalen Allegro setzt er bei zwei Motiven auf eine ungewohnte Betonung – Petitessen in diesem berauschenden Klangkosmos.
Zuvor, als Intro des Abends, behandelt der Dirigent mit der knapp sechsminütigen »Unanswered Question« des Amerikaners Charles Ives das Menschsein. Auf einen meditativen Streicherteppich folgt die ewig bohrende Frage nach dem Sinn des Lebens, präzise vom ersten Rang herab von Johannes Osswald auf der Trompete intoniert, die Holzbläser antworten mit flirrendem Gemurmel – so bleibt das unlösbare Rätsel ungelöst. Die sommerliche Musikreise über den Atlantik führt danach zu George Gershwin und seinem swingenden »Amerikaner in Paris«, das vom Orchester im Sound der Roaring Twenties interpretiert wird, jener Klangfarbe, die klassischer Musik und den damals aktuellen musikalischen Tendenzen aus dem Hause Jazz mitsamt ihren Broadway-Melodien eine rumorende Stimme verleiht. Das Orchester mag es ja, wenn es beseelt aufspielen darf, und nutzt die Gelegenheit dazu. Am Ende, nach Dvoráks Neunter, will der Beifall des ausverkauften Hauses nicht enden. Hofstetter stellt als Zugabe noch einmal die »Unanswered Question« von Ives in den
Raum und beantwortet die Frage nach seiner persönlichen Zukunft mit den Worten: »Wir sehen uns hier in der neuen Spielzeit wieder.«
Manfred Merz, 21.06.2018, Gießener Allgemeine Zeitung