Befreiung und Vernichtung: Heiner Goebbels inszeniert ein szenisches Konzert in Gießen.
Sechs musikalisch-szenische Kompositionen in Schwarz-Weiß, Rot und Blau, zusammengefügt zu einem Konzert. Sechs unterschiedlich akzentuierte Konstellationen aus Text und Bedeutung, Licht und Dunkelheit, Bewegung und Ruhe, Klang und Rhythmus. Heiner Goebbels hat im Stadttheater Gießen ein szenisches Konzert inszeniert, das verschiedene Bild- und Bedeutungs-Ebenen gleichberechtigt nebeneinander stellt und Musik, gesprochene Sprache und Licht rhythmisch strukturiert. Über weite Strecken ist auch das von Pablo Druker geleitete kleine Orchester Bestandteil des visuellen Konzepts. Die sechs Stücke bilden unter dem Titel „mit einem Namen aus einem alten Buch“ zusammen eine kleine Heiner-Goebbels-Retrospektive mit subkutaner methodologischer Selbstreflexion. Das älteste der sechs Stücke, „Die Befreiung“ auf einen Text von Rainald Goetz, stammt von 1989, das neueste, „Songs of Wars I Have Seen“, wurde 2007 uraufgeführt. Alle sechs Stücke interpretieren und inszenieren Texte multimedial. Aber wo entsteht der Zusammenhang?
Sprache als Klangmaterial
Eine Gemeinsamkeit in der Arbeitsweise liegt in der Verwendung von Sprache als Klangmaterial. Die Rhythmik wirkt oft hart, häufig stellt sie Kontraste zum Bühnenlicht, zur Bewegung in den Bildern her; stets wirkt sie anti-idyllisch. Eine gesteigerte, konzentrierte Wahrnehmungsbereitschaft, ein angespanntes Gefühl des Unheimlichen breitet sich im Publikum aus. Rhythmus hat in der Produktion eine zentrale Funktion. In „Die Befreiung“ etwa schafft er scharf und kontrastreich in der Musik und in dem mit souveräner Intensität von Lisa Charlotte Friederich gesprochenen und geschrienen Text eine Stimmung des unerbittlichen Vorantreibens; Befreiung schlägt in Vernichtung um und umgekehrt. Die „Szene“ nach einem Text von Alain Robbe-Grillet ist die fanatisch präzise Beschreibung der zeitgleich sichtbaren Bühnensituation, eine mindestens doppelbödige Theaterprobe, der David Bennent mit bebender Ruhe eine Stimme gibt.
Das Unheimliche entsteht im Monolog
In „Herakles 2“ auf einen Text von Heiner Müller entsteht das Unheimliche im Monolog, der eine dramatische Verwandlung protokolliert: Während Herakles auf dem Weg zum Kampf gegen die Hydra durch einen Wald zu gehen scheint, zeigt sich, dass der Wald selbst schon der Feind ist, der den, der durch ihn zu gehen scheint, allmählich verschlingt und in einen Teil seiner selbst verwandelt. So dass die Gegner identisch werden und fortan sich selbst oder sich gegenseitig – was das gleiche ist – unablässig bekämpfen und vernichten („Hydra“ ist übrigens der „Name aus einem alten Buch“). In „La Jalousie“ zu einem Text von Alain Robbe-Grillet, dem zweiten Schwergewicht des Abends, markieren wechselnde Rhythmen, auch in der visuellen Gestaltung, etwas wie das Herzklopfen des Textes selbst, das irgendwann von klackernden Schuhsohlen atemlos intensiviert (aber nicht einfach beschleunigt) wird. „La Jalousie“ spielt mit der Doppelbedeutung des Wortes, das im Französischen auch „Eifersucht“ bedeutet, und feiert zugleich das Hören als sinnlichen Eindruck, der Einsamkeit voraussetzt und produziert; Goebbels’ Inszenierung gewinnt daraus ein kollektives Theater-Erlebnis. In „Surrogate“ liefert wiederum Lisa Charlotte Friederich eine stimmlich, rhythmisch und dramatisch-expressive Art Rock-Hymne auf den Topos einer ubiquitären Hektik: „She’s been running!“ In „Songs Of Wars I Have Seen“ schließlich erschafft die mit Klangschalen gestaltete scheinbare Abwesenheit von strukturierender Rhythmik unter einem brüchig-lyrischen Trompetensolo (Rike Huy) eine tiefe, sonore Irritation. Und der Zusammenhang, jenseits der methodologischen Selbstreflexion eines Theaterkünstlers, der immer auch ein Komponist von Klängen Bildern, Assoziationen geblieben ist? Vielleicht geht es, um einen Vorschlag unter mehreren möglichen zu machen, um die unmögliche Ruhe vor und nach dem Kampf.
Hans-Jürgen Linke, 08.05.2018, Frankfurter Rundschau