Ein nettes kleines Format: die Kammeroperette mit Salonorchester. So etwas könnte man sich ruhig öfters mal gönnen. Besonders wenn für das Publikum Liegestühle bereitstehen, im Hintergrund Palmen winken und vorn auf der Drehbühne sieben exzellente Musiker in Bermuda-Shorts und Flipflops leichte Melodien erklingen lassen.
Der schöne Schein der Urlaubsidylle trügt natürlich. Erkennbar wird das spätestens dann, wenn "Häuptling Abendwind", der Kannibale aus der Südsee, die Bühne betritt.
"Häuptling Abendwind" ist der Titel der Operette von Jaques Offenbach und Johann Nestroy, die am Samstag im taT ihre viel umjubelte Premiere feierte. Wolfgang Hofmann hat den Text für das Stadttheater Gießen bearbeitet und die Inszenierung übernommen, Martin Spahr ist für die musikalischen Arrangements zuständig. Die vielen liebevollen Details der Ausstattung haben sich Katja Wetzel (Bühne) und Teresa Rinn (Kostüme) einfallen lassen.
Zum Auftakt eine kurze Ouvertüre des Salonorchesters, dem sechs Musiker unter Anleitung des Pianisten Wolfgang Wels angehören. Da betritt Häuptling Abendwind der Sanftmütige (Tomi Wendt) mit seiner Tochter Atala (Karola Pavone) die Bühne. Ein veritables Duett, das sich hier über Erziehungsfragen, die Sitten der Familie und des Stammes streitet. "Ich bin, der ich bin", singt Abendwind im schönsten Bariton, während das Töchterchen ihre Puppe gegen den Tisch knallt ("Du bist mein Kind, schlafe süß"): eine helle Operettenstimme, die in einem köstlichen Gegensatz zu dem aufmüpfigen Gebaren der pubertierenden Tochter steht.
Vater Abendwind erwartet Besuch von Häuptling Biberhahn (Dan Chamandy). Es ist allerdings kein Gefangener mehr in der Vorratskammer, den das Kannibalenvolk als Festschmaus verspeisen könnte. Abendwind macht sich auf die Suche.
Da wird, zum Entzücken der Tochter, ein junger Schiffbrüchiger namens Arthur (Clemens Kerschbaumer) angespült. Die beiden jungen Leute turteln in den schönsten Tönen herum, der helle und klangreine Tenor macht Eindruck. Abruptes Ende der Romanze: Abendwind bringt zusammen mit dem Blut verschmierten Koch Ho-Gu (Thomas Nuhn) den Fremdling in Richtung Küche.
Er soll Häuptling Biberhand aufgetischt werden, nicht wissend, dass es sich bei dem jungen Mann um den Sohn des Gastes handelt, der auf der Suche nach seinem verschollenen Vater ist. Doch zunächst streiten die Häuptlinge über die Gepflogenheiten der Kulturen. Dan Chamandy (Biberhahn) erweist sich mit seiner kräftigen Stimme als ebenbürtiger Partner von Tomi Wendt (Abendwind). Zusammen singen sie ihre Stammeshymnen, und bald schließen sich auch die anderen an. Dabei bewegen sich die Akteure so rhythmisch im Takt der Musik, daß auf das obligatorische Ballett verzichtet werden kann.
Für den musikalischen Background sorgt aufs Angenehmste das Salonorchester. Es spielen Carol Brown (Flöte), Attila Hündöl (Cello), Anna Deyhle (Klarinette), Maria Oliviera-Plümacher (Fagott), Gottfried Köll (Oboe) und Martin Gericks (Horn). Ihnen macht der Auftritt in leichter Sommerkleidung sichtlich Spaß. Auch dass sie von Küchenhelfer Unami (Pierre Schmidt) auf ihrer kleinen Drehbühne im Kreis gedreht werden, lassen sie sich gern gefallen.
Doch die drängende Frage bleibt: Lässt sich dieses fatale Dinner noch aufhalten? Die Zuschauer bangen mit Tochter Atala und manchen wird doch ein wenig schummerig, wenn immer neue Happen auf dem Essensband hereingefahren werden. Etwas ungustiös (wie der Wiener sagen würde) ist die ganze Angelegenheit schon hin und wieder.
Doch die Devise lautet: Fressen und gefressen werden, Jaques Offenbach war der scharfzüngige musikalische Karikaturist seiner Epoche. Er verstand es mit seinem skurrilen Humor, die Absurdität des menschlichen Zusammenlebens zu skizzieren. Wenig später sah Johann Nestroy die Operette, übertrug sie ins Deutsche und versah sie mit einer gehörigen Portion Wiener Schmäh´.
So ist es dem Stadttheater wieder einmal gelungen, ein Werk aus der Versenkung zu holen. "Häuptling Abendwind" ist in kaum einem Opern- und Operettenführer zu finden, dabei hat es eingängige Melodien, eine pfiffige Handlung und einen gesellschaftskritischen Hintergrund. Diese Ausgrabung hat sich gelohnt.
Ursula Hahn-Grimm, 28.11.2016, Gießener Anzeiger