Das Leben des François Villon ist hart. Der Dichter mit der frechen Schnauze eckt überall an. Choreograf Massimo Gerardi zeigt im taT seine Version des Nonkonformisten. Klaus Kinski und Paul Zech sind mit Inbrunst dabei.
Frankreich am Ende des Mittelalters. Das Leben ist hart. Die Anerkennung gering. Sozialisation schwierig. Es gärt und brodelt am Rande des Abgrunds. Dazu spuckt Dichter François Villon mit seinem Nonkonformismus den Etablierten in die Suppe. Autor Paul Zech hat die alten Weisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgepeppt und auf moralisch fragwürdige Art ergänzt (»Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon in deutscher Nachdichtung von Paul Zech«). Es trifft sich gut, wenn der morbide Mime Klaus Kinski diesen Text in den 50er Jahren aufgreift und ihn mit rollendem R und trabendem Timbre rezitiert. Jeder kennt das Zech-Zitat: »Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund.«
Kinskis Version aus dem Jahr 1959 nutzt Massimo Gerardi für seine neue Choreografie mit dem Titel »Seid was ihr wollt«. Es ist die Eröffnungspremiere des TanzArt-ostwest-Festivals. Im kleinen Haus des Stadttheaters, dem taT, wurden am Donnerstag die Ausgangsfragen des Italieners, der in Gießen vor Jahren seine »Puppentänze« uraufführte, zum Schlüsselerlebnis: Wie authentisch kann jemand sein, wenn er mit allem konform geht – und was widerfährt dem Nonkonformisten? Wann wird aus Akzeptanz Ächtung und wie ergeht es dem Geächteten?
Tänzer Sven Krautwurst zeigt das schon zu Beginn. Er ist Villon, Zech und Kinski in Personalunion, sobald er im Pelzmantel die Bühne betritt, sich ein rotes Unterhöschen über- und den Mantel vom nackten Körper abstreift. Schaut her, ruft Krautwurst in seinem Solo: Ich bin ein moralisches Schwein. Krautwurst lässt die Muskeln seines trainierten Körpers tanzen, er bebt, lebt, strebt und küsst die Frauen auf ihren Erdbeermund. Das ist erfrischend anzüglich, bis sich herausstellt, dass dieser Villon sich am anderen Ufer Männer angelt, was ihn in den Augen der Masse ins Abseits befördert.
Doch im Laufe des Abends wird deutlich: Auch der Rest der mehr erd- als erdbeerbeschmierten Tänzertruppe hat die Anarchie für sich gepachtet. Die halb nackten Damen (und Herren) tragen Mini-Burkas, die bis zur Hüfte reichen, und darunter lange Schenkel. Schwarze Unterwäsche hat Konjunktur. Die Männer packen nicht nur ihren Sixpack aus. Sie müssen danach mit Masken überm Kopf in Einzelhaft. Krautwurst sitzt schizophren hoch oben am roten Telefon und hält sich einen seiner Jungs an der Gummileine.
Die dunkle Tanzfläche mit ihrem drehbaren Wand- und Kammerelement (Bühne: Katja Wetzel) und die variierenden Kostüme (Anika Klippstein) schaffen mitsamt dem spärlichen Neonlicht Atmosphäre. Obwohl ihr makelloser Körper höchsten voyeuristischen Ansprüchen genügt, hätte es der Nacktszene von Tänzerin Maria Adriana Dornio nicht bedurft – vielleicht war aber auch nur die Trockeneismaschine zu benebelt, um korrekt ihren Dienst zu versehen.
Sobald die schwarzen Wandflächen bekritzelt werden, bricht die Kreidezeit aus. Von »Ich habe mehrere Götter neben dir« bis zum »Nougatstecher« reicht das Geschmiere. Die Szenerie wird vulgärer, das Überleben anstrengender. Gerardi zeichnet nicht schön, er zeichnet scharf und gesellschaftskritisch. Und mischt immer eine Prise Humor darunter, um das Schwere leicht zu machen. Tosender Applaus vom Publikum.
Was sich auf keinem Programmzettel findet, ist der Hinweis auf die treibende Klangkulisse, ohne die das Stück in Statik steckte. Das pulsierende Soundengineering geht auf das Konto des Russen Ivan Pavlov. Er firmiert unter dem Künstlernamen CoH. Die Gitarre kreischt, der Synthesizer pocht, der Rhythmus rotiert und geht mit Kinskis Rezitationskonvolut eine treibende Symbiose ein, die von den sieben Tänzern konzentriert in Vehemenz verwandelt wird. Gerardi gelingen in seiner Choreografie die seltenen intensiven Momente, in denen sich Musik, Tanz und inhaltliche Aussage zu einem großen Ganzen vermählen.
Manfred Merz, 02.06.2017, Gießener Allgemeine Zeitung