"Mit den Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke", schrieb der Komponist Carl Orff 1937 an seinen Verleger und forderte ihn gleichzeitig auf, alle früheren Werke einzustampfen. Seine Vagantenlieder von Sex und Suff, vom Tanzen und Fressen sind ein Geniewurf von wilder, elementarer Kraft. Die Musik dringt und drängt mit der Wucht einer Dampfwalze nach vorne - überwältigend im wahren Wortsinn. Überwältigend war auch die klangmächtige Aufführung unter der Leitung des stellvertretenden Generalmusikdirektors und Chordirektors Jan Hoffmann im Rahmen der Sinfoniekonzertreihe am Dienstagabend im Stadttheater, die vom Publikum im proppenvollen Haus frenetisch gefeiert wurde.
Lieder von Sex und Suff
Keine Frage, Hoffmann bewegte in diesen anderthalb Stunden wieder einmal die Massen. Auf der Bühne führte er neben dem Philharmonischen Orchester Gießen den gut hundertköpfigen Riesenchor mit Mitgliedern des Theaterchores, des Gießener Konzertvereins und der Wetzlarer Singakademie. Hinzu kamen der 24-köpfige Kinder- und Jugendchor des Stadttheaters (Leitung: Martin Gärtner) sowie die drei vorzüglichen Gesangssolisten Antje Bitterlich (Sopran), Clemens Kerschbaumer (Tenor) und Grga Peros (Bariton). Es herrschte zeitweise enges Gedränge, doch der in Chordingen erfahrene Dirigent behielt in jedem Augenblick den Überblick, koordinierte mit Weitsicht, hielt souverän die Balance und damit die innere Spannung zwischen den einzelnen Teilen und führte alle Beteiligten zu einer insgesamt grandiosen Leistung. Was aber am stärksten auffiel, war die große Begeisterung, ja der Feuereifer, mit dem alle bei der Sache waren. Und dieser Enthusiasmus floss direkt in die Musik und ließ die "Carmina Burana" zu einem glückhaften Gesamterlebnis werden, wie es sich auch in dem minutenlangen, überschäumenden Schlussapplaus ausdrückte.
Wieder zeigte sich, dass Orffs Musik keinen kalt lässt und einen sofort ergreift. In geradezu magischer Klangsprache kommt darin auf natürliche, aufrichtige Weise eine ursprüngliche Gefühlswelt zum Ausdruck, wie sie uns heutzutage weitgehend abhandengekommen ist. Die Melodien sind eingängig und prägnant, als entstammten sie direkt mittelalterlichen Volksliedern.
Dieser ungeheuren Wirkung, diesem Sog aus lebendig pulsierenden Rhythmen und archaisch anmutenden Harmonien konnte sich auch am Dienstagabend keiner entziehen. Schon im klanggewaltigen Eingangsstück "O Fortuna" präsentierte sich der Riesenchor in voller Stimmpracht und ließ im Folgenden vielerlei Nuancen seiner Möglichkeiten aufleuchten, so in dem munteren, von Lebensfreude bestimmten "Ecce gratum", dem süßlichen Ohrwurm "Floret silva nobilis" oder dem farbenreichen "Reie" mit dem vital auftrumpfenden "Were diu werlt alle min". Der Kinder- und Jugendchor machte seine Sache sehr gut, und das Orchester erwies sich allzeit als verlässlicher, stilsicherer Partner.
Im pochenden Urstrom der Klangmassen steuerten die Gesangssolisten Inseln des Innehaltens an. Sowohl keck als auch anmutsvoll verlieh Antje Bitterlich vom Nationaltheater Mannheim in "Stetit puella" dem Mägdelein im roten Hemd prägnant Ausdruck, um "In trutina" voll knisternder Sinnlichkeit die Liebe zu besingen. Mit sehr viel Zartgefühl brachte Grga Peros vom Hausensemble seinen weichen Bariton in "Omnia sol temperat" zur Geltung und legte in das Wirtshauslied "Estuans interius" seine ganze Gestaltungskraft. Tenor Clemens Kerschbaumer, ebenfalls aus dem Gießener Ensemble, machte aus seinem kurzen Auftritt als gebratener Schwan ein satirisches Kabinettstückchen.
Eine weitere Aufführung der "Carmina Burana" in noch größerem Rahmen findet am 25. Mai um 20 Uhr in der Wetzlarer Rittal-Arena statt.
Thomas Schmitz-Albohn, 17.05.2018, Gießener Anzeiger