Die beiden mächtigen Anfangsakkorde in d-Moll wirken angsteinflößend. Es dauert, bis die Ouvertüre zu Mozartscher Leichtigkeit findet. Wer diese zwei Musikbrocken noch einmal hören will, muss sich drei Stunden gedulden: Im Finale, wenn der tote Komtur auf dem Plan erscheint und den teuflischen Frauenverführer Don Giovanni mit ins Jenseits reißt, rumort der Beginn der Oper mit seinem düsteren Glanz neuerlich. Dazwischen setzt der Komponist in seinem Dramma giocoso gemeinsam mit dem Librettisten Lorenzo Da Ponte auf ausgewählte Arien, Duette, Terzette, Sextette und reichlich rezitative Erklärstücke, damit es dem Publikum wohlig warm oder lustig
leicht ums Herz wird.
Im Stadttheater mausert sich am Samstag als erste Musiktheaterpremiere der neuen Spielzeit die Neuinszenierung der ernstesten aller Opern des Wolfgang Amadeus Mozart zu einem durchschlagenden Erfolg. Das Publikum spendet in der Fortsetzung des Da-Ponte-Zyklus (nach »Cosi fan tutte« in der letzten Saison) sämtlichen Beteiligten minutenlangen Applaus. »Don Giovanni« gewinnt in der Lesart von Regisseur Wolfgang Hofmann an Humor, ohne an Tiefgang zu verlieren. Das wirkt anfangs etwas harsch, wenn die beidenWelten der schlichten Bauern und der reflektierenden Edelleute aufeinandertreffen. Doch Hofmann gelingt der künstlerische Spagat, indem er den wehklagenden Momenten in diesem Nachtstück (Licht: Wolfgang Schünemann) ohne kreativen Pointenknall Raum gewährt. Nach der Pause nimmt die Konstruktion an Fahrt auf und bleibt bis zum Ende in einem niveauvollen Wechselspiel mal humoristisch, mal anrührend.
Das Ränkespiel um den heiratswilligen Bauernbuben Masetto und seine Zerlina beginnt schon im Foyer. Die blendend aufgelegte Karola Pavone feiert als prächtige Braut im schwarz-roten Teufelchen-Outfit mit den Girls vom Chor Junggesellinnenabschied und Tomi Wendt, der ja alles tragen kann, eilt als Bräutigam im rosa Häschenkostüm umher. Beide verteilen aus einem Bauchladen Süßigkeiten ans erstaunte Publikum. Auf der Bühne bringen Donna Anna (wunderbar ausgefeilt und mit silbrigem Glanz in der Stimme: Sopranistin Naroa Intxausti in ihrem Rollendebüt) und Don Ottavio (in den Arien zum Dahinschmelzen: Tenor Clemens Kerschbaumer) Ernst ins Verführertreiben des Don Giovanni.
Grga Peroš debütiert als Titelheld mit Bravour. Er singt eine rasante Champagnerarie, hat Kraft und Chuzpe und verleiht der Verzweiflung des Nimmersatten Gestalt. Francesca Lombardi Mazzulli ist eine intensive und stimmlich über jeden Zweifel erhabene Donna Elvira, Alexander Hajek ein unvergesslicher Diener Leporello.
Der gebürtige Kanadier tänzelt, springt halsbrecherisch über die Bühne und vollführt, von Zerlina auf einen Stuhl gefesselt und mit Pfefferspray behandelt, artistische Kunststücke. Hajek war früher Stuntman. Zehn Jahre lang übte er eigenen Worten zufolge diesen Beruf aus. Dass er auch zu den Stimmakrobaten gehört, stellt er am Samstag eindrücklich unter Beweis. Alfred Reiter demonstriert als Komtur in der Schlussszene mit seinem abgründigen Bass blitzsauberes Können.
Ausstatter Heiko Mönnich hat aussagekräftige Kostüme entworfen. Sein Bühnenbild aus hellgrauen beweglichen Steinwänden nach Art eines italienischen Rustico-Mauerwerks ist gewöhnungsbedürftig. Nach dem ersten Akt glaubt der Betrachter schon, sich an den verschiebbaren Elementen sattgesehen zu haben. Doch im zweiten Durchgang entwickelt diese kühle Don-Giovanni-Welt eine Eigendynamik, die zum verworrenen Geschehen passt.
Generalmusikdirektor Michael Hofstetter gibt seinem aufmerksamen und hellwachen Philharmonischen Orchester Gießen im Graben ein gutes Tempo vor, setzt in den lyrischen Momenten auf die zarte Ruhe vor dem Sturm, dreht im Tutti aber bisweilen so laut auf, dass die Sänger Mühe haben, sich durchzusetzen. Der Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann) ergänzt gewohnt genau.
Regisseur Hofmann hat seinen eigenen Schluss ersonnen: Am Ende fliegt das Mauerwerk im Wortsinn in die Luft, steigt womöglich mitsamt Don Giovanni empor, hoch in die Lüfte, hinaus in die kosmischen Weiten eines leuchtenden Universums, das per Video noch auf dem sich schließenden Vorhang zu sehen ist. Übrig bleiben von dieser Oper und ihren tragischen Helden: Steine im Weltall.
Manfred Merz, 18.09.2017, Gießener Allgemeine Zeitung