Wie aktuell das Unzeitgemäße sein kann
Kaum zu glauben, dass Jean-Paul Sartres Stücke einmal echte Knüller waren. Kaum zu glauben zum einen, weil man sie heute in den Leporellos suchen muss, zum anderen, weil die Dialoge hölzern, die Figuren holzschnittartig wirken. Etwa „Die schmutzigen Hände“, Sartres erfolgreichstes Stück, 1948 in Paris uraufgeführt.
In Illyrien, einem fiktiven Balkanstaat im Zweiten Weltkrieg, flieht der junge Hugo aus seiner bürgerlichen Herkunft zu den Kommunisten. Um seine politische Konversion glaubhaft zu manifestieren, will er einen politischen Mord begehen. Der pragmatische Parteisekretär Hoederer soll aus dem Weg geräumt werden, weil dieser eine Koalition mit Faschisten und Liberalen vorbereitet, um so langfristig eine von Moskau unabhängige kommunistische Partei in Illyrien zu etablieren. Der realpolitischen Position Hoederers steht Hugos Idealismus gegenüber. Hugo, der Intellektuelle, will die kommunistische Lehre in die Tat umsetzen – voller Verachtung blickt er auf den machiavellistisch handelnden Hoederer. So weit, so spannend – wären da nicht Sartres Dialogschlacken und wäre da nicht die ungelenke Rahmenhandlung, in der Hugo, gerade aus dem Gefängnis entlassen, seinem existenzialistischen Ende entgegengeht.
Eine Inszenierung muss, will sie das Stück in die Gegenwart retten, radikal kürzen. Diese Radikalität hat Regisseur Hüseyin Michael Cirpici am Stadttheater Gießen nicht gescheut. Viel schneller trifft Hugo jetzt auf Hoederer, wenngleich sich das noch immer zieht – besser ist der Text eben nicht. Zudem werden dadurch, dass die Figuren ständig auf- und abgehen, diese Längen regelrecht sichtbar; zum Raum wird hier die zähe Zeit. Der zweite Teil des Abends gewinnt jedoch an Dichte und Tempo. Die Bühne (Sigi Colpe) greift den Kernkonflikt des Stücks ausgezeichnet auf – im Vordergrund spielt sich das existenzialistische Drama um Hugos Freiheitsakt ab, dahinterliegend wird im – Hoederers realpolitische Bodenständigkeit symbolisierenden – holzverkleideten Guckkasten das Politdrama aufgeführt. Seit der Uraufführung des Stücks wird über die Sympathievergabe diskutiert: Soll der Zuschauer auf Hugos oder Hoederers Seite stehen? In der Gießener Inszenierung muss Hugo (Maximilian Schmidt) sich laufend abstrampeln, nach Anerkennung gieren, um Aufmerksamkeit flehen. Das ist von Sartre so angelegt, wenn auch Schmidt etwas übertreibt, wodurch die Intellektualität der Figur kaum durchschimmert.
Souverän, klug und präsent spielt Lukas Goldbach den Pragmatiker Hoederer. So fest und gut der Sitz seiner Stimme ist, mit der Goldbach wohlakzentuiert und ruhig Sartres Sätze tatsächlich zu vergegenwärtigen vermag, so kraftvoll ist auch sein Auftreten. Hoederer ist jemand, der das Politische schlechthin verkörpert. Das macht ihn in unserer für das Politische blinden Gegenwart zu einer unzeitgemäßen Figur. Dieses Unzeitgemäße, das nicht veraltet meint, aber ist es, was den „Schmutzigen Händen“ Aktualität verleiht.
Wolfgang M. Schmitt, 15.01.2018, Rhein Zeitung