Die Beweggründe, LA FORZA DEL DESTINO am Stadttheater Gießen konzertant herauszubringen, dürften auf der Hand liegen. Es würde ein Haus dieser Größenordnung, was Etat, Personal und Bühnenformat anbetrifft, schon sehr stark fordern, sich auf eine inszenierte Fassung mit ausgeprägten Ausstattungsambitionen einzulassen. Allein die wechselnden Schauplätze von Giuseppe Verdis um 1750 in Italien und Spanien spielender Oper – aristokratische und klösterliche Anwesen, eine Herberge, eine Klause, ein Feldlager hinter der Front – würden den Werkstätten einiges abverlangen. Ob das von Martin Kusej kürzlich an der Bayerischen Staatsoper vorgestellte Regiekonzept, das dramaturgische Schwergewicht in einer fiktiven Regierungszentrale aus Glas und Beton im Stil der 1950-er Jahre spielen zu lassen, eine Lösung auch für andere Theater sein könnte, ist natürlich Spekulation. Ob das Publikum Protagonisten aus Politik, Militär und Kirche in der heute weitgehend üblichen Geschäftskleidung sehen möchte, ebenfalls.
Die Grundentscheidung von Gießens GMD Michael Hofstetter und des Dramaturgen Matthias Kauffmann, das okkulte wie spröde Melodram konzertant zu erschließen, erweist sich jedenfalls als plausibel. Das Geschehen, das mit einem ungewollten Pistolenschuss seinen verhängnisvollen Lauf nimmt, rückt in den Hintergrund, damit die Komposition mit ihrer filigranen Vielschichtigkeit in den Fokus. La forza del destino avanciert zu la forza delle voce, der Macht der Stimme. Stimmlich blendend aufgelegte Gäste im Verein mit den sich achtbar schlagenden Hauskräften und dem engagierten Chor des Theaters statten das Unterfangen mit opulentem Verdi-Klang und beeindruckender Musikalität aus.
Verdis Auftragswerk auf ein Libretto von Francesco Maria Piave für den Zarenhof in St. Petersburg, 1862 uraufgeführt, wird heute meistens in der Textfassung auf die Bühne gebracht, die Antonio Ghislanzoni 1869 für die Mailänder Scala schrieb. Diese vier Akte umfassende Version, Resultat der von Verdi vorgenommenen Überarbeitung, ist auch die Grundlage der Gießener Produktion. Musikalisch lässt das Werk nichts zu wünschen übrig. Es changiert zwischen den Stilen, bietet eine Fülle an Melodien, wechselnden Stimmungen, meisterhaften Ensembleszenen und eine ausgereifte Arienkultur sowie einen sicheren Umgang mit Leitmotiven. Das wohl bekannteste, das Schicksalsmotiv der Leonora, bringt die Ouvertüre als Solostück in Konzertsäle und in Wunschprogramme von Radio und Fernsehen, seitdem es diese gibt.
Der Reichtum an Einfällen, Variationen und kühnen Strukturen, der Verdis Spätstil mit Otello und Falstaff bereits vorwegnimmt, fasziniert das Publikum in ähnlich zupackender Weise wie 2012 Rossinis konzertanter Wilhelm Tell unter der musikalischen Leitung Herbert Gietzens. Das ist neuerlich zu einem Großteil dem Philharmonischen Orchester Gießen zu verdanken, das – gemessen an seiner mittleren Größe und bei wenigen Wacklern und Abstimmungsirritationen – einen famosen Verdi-Klang produziert. Hofstetter zieht die Fäden des auf der Bühne platzierten Orchesters mit hochfrequenter Intensität und einem sicheren Gespür für die Koordination mit den hinter ihm postierten Sängerinnen und Sängern, die ohne ständigen Blickkontakt funktioniert. In den tutti entfalten sich pompöser Glanz und brausende Dynamik, in den solistischen Passagen lyrischer Schmelz und entsagende Innerlichkeit. Flöte, Harfe und Klarinette agieren in Hochform. Chor und Extra-Chor, ein ebenbürtiger Partner, einstudiert von Jan Hoffmann, punkten vor allem in den Mönchs- und Volksszenen.
Die von Tragik umwitterte, Enormes verlangende Partie des Mischlings Alvaro ist mit Angelo Villari
prominent besetzt. Villari, der am Theater Gießen sein Debüt feiert, hat keine Mühe, der ausgreifenden Tessitura der Rolle gerecht zu werden. Der im italienischen Repertoire bewanderte Tenor beherrscht die gesamte Palette vom heroischen Sforzando bis hin zum Verweilen im mezza voce nach Belieben. Eine starke Leistung. Als sein Gegenspieler ist Alexander Hajek als Don Carlos di Vargas nach einer gewissen Anlaufphase eine stimmlich harmonierende Ergänzung. Sein sicher durch alle Register geführter Bariton trifft die leuchtenden Farben wie die dunklen Pastelltöne der Partie vorzüglich. Zu einem Superlativ des Abends vereinen sich Villari und Hajek im Schwurduett des dritten Akts, das wie eine Vorstudie des kommenden Bravourstücks von Carlo und Posa im Don Carlos anmutet. Apropos Superlative: In elegischer Präsenz offenbart sich Andreas Hörl als Pater Guardian. Der Bayreuth-erprobte Bass agiert – gewollt oder nicht – mit seinem hier lyrisch akzentuierten Timbre wie ein Gegenpol zu den Feuerköpfen, die das Schicksal mit dem Schwert herausfordern und erst begreifen, wenn das Blut schon fließt.
Anna Netrebko wird auf dem Hintergrund ihrer Salzburger Trovatore-Leonore das Bonmot zugeschrieben, bei Verdi höre der Spaß auf. Übersetzt ist wohl damit gemeint, dass das Melodische bei Verdi über die Schwierigkeiten hinwegtäusche, die sich den Sängern stellen. Dorothea Maria Marx bleibt in der verzehrenden Rolle der Leonore di Vargas wenig schuldig, kostet indes das breit gefächerte Potenzial der Partie nicht ganz aus. Die Sopranistin, in Gießen als Violetta aus La Traviata bestens in Erinnerung, gibt zwar die liebende und bangende Frau mit Hingabe, lässt indes den charismatischen Funken dieser Erscheinung letztlich auf das Publikum nicht ganz überspringen. Das schafft auf ihre Weise in knallroter Robe Vero Miller als junge Wahrsagerin Preziosilla, eine Preziose des Sängerensembles. Mit Feuereifer intoniert sie im Feldlager-Bild ihren Rataplan, den der Chor auch hier als dankbare Steilvorlage aufgreift. In den weiteren Partien überzeugen mit komödiantischen Anleihen Grga Peroš als Fra Melitone und Clemens Kerschbaumer in der Rolle des Mastro Trabuco. Sora Winkler gibt der Kammerzofe Curra Esprit, Matthias Ludwig dem Alcalden und dem Chirurgus sonore Würde. Thomas Stimmel ist ein eher blasser Marchese von Calatrava.
Die Besucher reagieren nach dem berührenden Schluss-Terzett zunächst mit dankbarem, dann sich langsam steigerndem Beifall. Einige Bravo-Rufe sind insbesondere dann zu vernehmen, wenn die Aufmerksamkeit den Musikern oben auf der Bühne und dem dahinter platzierten Chor gilt. Einige wenige Plätze übrigens sind im Theater frei geblieben. Das möge sich bei den noch ausstehenden beiden Aufführungen ändern. Es lohnt sich nämlich.
Ralf Siepmann, 03.03.2018, Kulturmagazin O-Ton