Vom Meer ins All und ab in die Mythologie. »Waves« heißt das neue Tanzstück von Tarek Assam. Im taT zeigt der Choreograf eine neue Körpersprache voller Anmut und Hingabe.
Er ist Science-Fiction-Fan und Utopist. Er zitiert den Silver Surfer aus dem Marvel-Universum und lässt die nordische Mythologie aufleben, wenn der alte Heimdall, seines Zeichens Wächter der Götter, angerufen wird mit den Worten: »Activate the wave« (aktiviere die Welle). Worauf die Tänzer auf allen vieren rhythmisch die Welle aktivieren, was irre aussieht und mörderisch auf die Gelenke geht, wie überhaupt der zeitgenössische Tanz den Orthopäden dieser Welt ungeahnten Zulauf beschert.
Stadttheater-Tanzdirektor Tarek Assam indes sucht im taT in seinem neuen Stück »Waves« nicht nach Medizin, sondern nach der perfekten Welle, was schon die Band Juli mit ihrem gleichnamigen Hit erfolgreich tat. Assam setzt auf Elektro-Sound, auf starke Rhythmik, auf Körperglanz und -gloria. Sieben Tänzer aus seiner Compagnie, ganz in Weiß samt Reithosen, stehen auf dem kleinen Bühnenviereck und verausgaben sich in dem 60-minütigen Mobilitätsmarathon auf hinreißende Weise. Ein wagemutig choreografierter Pas de deux reiht sich an den nächsten. Die Soli flirten mit der Schwerkraft. Die Gruppenszenen vibrieren vor Hingabe.
Assam zeichnet »Waves« als kontrastierende neue Körpersprache. Eckiges stößt auf Fließendes. Elektromagnetische Wellen strömen umher. Das Auf und Ab und Hin und Her führt in abstrakte Weiten und Welten. Kopernikus, Newton und Einstein lassen grüßen. Die beiden wellenförmigen Bühnenwände von Ausstatter Michele Lorenzini bieten Räume für Lichteffekte. Lieve Vanderschaeve nutzt mit ihren 3-D-Videoinstallationen jeden Zoll der Fläche, lässt das Licht psychedelisch zucken, Wasser tropfen und das Wellenweltraummännchen abtauchen ins Meer, wo das Leben beginnt, und von dort aus ins All schweben Richtung Unendlichkeit. Assam setzte schon 2016 mit seinem Stück »Gravitas« (Schwerkraft) Zeichen und nun dem Ganzen die Krone auf: »Waves« wird zur Augenweide, wenn die treibende Musik von Do-Chu, Grandbrothers, Alva Noto und Benjha (sein Song »Gravity« geht unter die Haut) dem Ensemble die Möglichkeit gibt, mit dem Visuellen zu spielen. Assam spürt neuerlich geschmeidige Bewegungsabläufe auf und stellt sie ins Zentrum seiner Choreografie. Bei »Waves« treibt er es bis zum Äußersten. Sven Krautwurst krault wie ein Weltmeister durch die Luft, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen. Magdalena Stoyanova verleiht der Anmut ihren Namen. Wirbelwind Caitlin-Rae Crook zeigt Graziles. Maria Adriana Dornio hält im Duett den Spannungsbogen und ihren athletischen Leib auf Kurs. Mamiko Sakurai, Yusuke Inoue und Bayarbaatar Narangerel ergänzen die perfekte Welle. Langer Applaus am Donnerstagabend vom Premierenpublikum.
Manfred Merz, 19.05.2018, Gießener Allgemeine Zeitung