Nach Ernst Tollers "Hoppla, wir leben!" im Schauspiel ist auch das Musiktheater am Gießener Stadttheater mit Wolfgang Amadeus Mozarts Oper "Don Giovanni" erfolgreich in die neue Spielzeit gestartet. Als am Samstagabend nach über drei Stunden der letzte Vorhang fiel, wogte minutenlanger Beifall durch das vollbesetzte Haus. Das Publikum feierte einen Mozartabend, der unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter sehr schön die Balance zwischen Leichtigkeit und düsterer Tragik hält. Vor allem lassen die durchweg vorzüglichen Gesangsdarsteller diesen "Don Giovanni" zu einem beglückenden Erlebnis werden. In der Inszenierung des Gastregisseurs Wolfgang Hofmann wird die Tragik des Stücks jedoch auf die leichte Schulter genommen, und die Waagschale neigt sich im Verlauf des Abends immer stärker dem Klamauk zu.
Seit 230 Jahre ist Don Giovanni auf den Opernbühnen der Welt im Dauereinsatz - und bei vielen seiner Auftritte haben er und das Publikum leiden müssen. Was haben Regisseure nicht alles aus ihm gemacht, um sich selbst interessant zu machen. Er war hemmungsloser Triebtäter, Bandenchef, gieriger Investmentbanker, Handlanger des US-Imperialismus, Sexbesessener und sogar Borderliner und Autist.
In Gießen ist er nun als Scheiternder zu sehen, dem nichts mehr gelingt. Vom ersten Augenblick an, da sich der Vorhang hebt, hat der berüchtigte Frauenverführer bei keiner Frau mehr Erfolg. Es ist wie verhext, aber es will ihm einfach nichts mehr gelingen. Weder bei der gefühlvollen Donna Anna noch bei dem Bauernmädchen Zerlina kommt er an.
Neu ist diese Sicht allerdings nicht, denn die Handlung gibt sie durchaus vor. Es ist also keineswegs eine dem Werk aufgezwungene Interpretation. In dem Bühnenwerk, in dem Mozart und sein Librettist Lorenzo Da Ponte die letzten Stunden im Leben des Schwerenöters schildern, ist das Publikum Zeuge, wie Don Giovanni von Misserfolg zu Misserfolg eilt. Man sieht aber auch, dass die anderen Figuren ebenfalls nichts zustande bringen. Das führt die Inszenierung besonders anschaulich am Ende vor Augen, wenn der Verführer in einem großen Spektakel für immer abtritt. Der Raum löst sich auf, das Tor zur Unendlichkeit des Weltalls öffnet sich - und die anderen stehen verlassen und hilflos herum. Sie haben ihren Bezugspunkt verloren und fühlen nichts als Leere.
Das Geschehen liegt die meiste Zeit in nächtlich-blauem Licht. Wuchtige Mauerblöcke, die an die Wände stolzer Palazzi erinnern, prägen in jeweils unterschiedlicher Anordnung die Schauplätze. Die Mauerquader bilden Gassen, Hinterhalte, Verstecke, öffnen sich zu Plätzen oder rücken dicht aneinander, dass kaum noch ein Durchkommen ist, und spiegeln so auch die seelische Verfassung der handelnden Personen wider.
Hofmann lässt die Handlung der Oper im Laufe einer Nacht spielen. Bei Nacht tun sich Abgründe auf, und die Menschen werden an ihre Grenzen geführt. Die Regie reizt die Komik voll aus und scheut auch nicht vor plumpen Späßen zurück. Figuren wie Donna Elvira und Don Ottavio wirken in ihrer Ernsthaftigkeit fast lächerlich. Frohsinn triumphiert allenthalben, und dem Publikum gefällt's. Noch nie hat man es bei "Don Giovanni" so viel kichern hören wie am Premierenabend.
Man sieht Zerlina und Masetto Junggesellenabschied feiern. Die Mädels um Zerlina sind als reizende Teufelchen kostümiert, die sich mit Schnäpsen in Stimmung bringen. Die Männer wollen auch ihren Spaß haben und haben Masetto in ein rosarotes Hasenkostüm gesteckt. Leporello, dem die Aufgabe als Motor der Komik zukommt, muss viel über sich ergehen lassen. Er wird gestoßen, geschlagen, getreten und von Zerlina mit Pfefferspray und einem Messer malträtiert. Aber er äfft auch seinen Herrn bei der Champagnerarie nach oder spielt für ihn vor dem Fenster Elviras mit übertrieben schmachtenden Gesten den feurigen Liebhaber.
Der Einfallsreichtum der Musik kennt keine Grenzen. Jede Nummer ist voller Leben und höchster technischer Meisterschaft. Mozart, der das Tragische wie das Komische beherrscht, lässt jede Figur mit größter Wahrhaftigkeit aufleben, und dabei ist jede für sich einzigartig: Nie ähnelt Zerlinas Gesang dem der Elvira oder der Anna, nie singt Don Giovanni in gleicher Weise wie Leporello oder Masetto.
Die Musik rollt das Geschehen vom Ende her auf: Mit dem Auftritt des steinernen Gastes beginnt bereits die Ouvertüre. Der Gesang des Komturs (gesanglich bezwingend: Alfred Reiter im Schlafanzug) wird von massiven Bläserklängen und Posaunen gestützt. Dies und die selten verwendete Tonart d-Moll können durchaus als Verweis auf religiöse Dimensionen gedeutet werden. Demgegenüber steht Don Giovanni, dem zwar keine Eroberung mehr gelingt, in dessen musikalischer Charakterisierung die erotische Macht jedoch ständig präsent ist. In der sehr flotten, zügigen Wiedergabe durch das Philharmonische Orchester strahlt die Musik Frische und Vitalität aus. Hier klingt Mozart federnd, leicht, transparent; es gibt rührende und brillante Momente - und Hofstetter fasst all diese Elemente souverän zusammen und gibt den Sängern Atem zur größtmöglichen Entfaltung.
Die durchweg gute Besetzung lässt die Herzen der Opernfreunde höherschlagen. Als Donna Anna glänzt Naroa Intxausti nicht nur mit ihren Koloraturen, sondern geht auch ganz in der bewegenden Verkörperung ihrer Rolle auf. In ihrer von Bläsern und Flöten umspielten Rachearie "Non mi dir" wächst sie zu dramatischer Größe heran. Mit bezauberndem Charme spielt Karola Pavone die Zerlina als selbstbewusste junge Frau, die sich nichts vormachen lässt. Sie strahlt Natürlichkeit aus, und ihr Gesang ist voller Anmut und Liebreiz - besonders im berühmten Duett mit Don Giovanni "La ci la mano". Das suggestivste Seelenporträt liefert indes Francesca Lombardi Mazzulli als Donna Elvira, die mit Intensität und schier unbändigem Temperament dem Gefühl einer betrogenen, aber starken Frau Ausdruck verleiht. Ihr gelingt auch das Kunststück zu zeigen, dass sie sich von Don Giovanni zugleich abgestoßen und angezogen fühlt.
Ein Kerl voller Saft und Kraft ist dieser Don Giovanni in der Darstellung durch Grga Peros. Mit rundem, voll klingendem Bariton spielt Peros die vielen Facetten seiner Partie lustvoll aus, beherrscht den Schmelz des Verführers ebenso wie die Attitüde des hohen Herrn. Ohne Champagner singt er seine Champagnerarie, die in seiner fast expressiven Auffassung eher nach Verzweiflung als nach Lebenslust klingt.
Bei Alexander Hajek als Leporello laufen alle Fäden zusammen. Er besetzt nicht nur das Humor- und Spaßzentrum der Inszenierung, sondern erweist sich auch als famoser Sänger, der seinen geschmeidigen, einschmeichelnden Bass jederzeit optimal einzusetzen versteht. Eine glutvolle Vorstellung gibt Clemens Kerschbaumer, der Don Ottavio mit großer stimmlicher Ausstrahlung ins Spiel bringt. Er betört mit Noblesse und Schmelz. Mit seiner kraftvollen Darstellung des Masetto rundet Tomi Wendt schließlich das positive Bild der Sängerriege ab. Zu erwähnen wäre noch der Chor (Einstudierung: Jan Hofmann), der nicht nur beim Junggesellenabschied, sondern auch beim Maskenfest auf dem Schloss in gewohnter Zuverlässigkeit seine Sache gut macht.
Thomas Schmitz-Albohn, 18.09.2017, Gießener Anzeiger