Gemeißelte Akkordblöcke treffen auf loderndes Musikfeuer. Das Sinfoniekonzert im Stadttheater lockt zur Spielzeiteröffnung mit Klassik und Moderne. Das verzückte Publikum lauscht nach der Sommerpause begierig.
Generalmusikdirektor Michael Hofstetter ist immer für eine Überraschung gut. Zur musikalischen Spielzeiteröffnung nach der Sommerpause setzt er beim ersten Sinfoniekonzert auf die Klassiker Mozart und Beethoven sowie auf einen Neutöner: Heiner Goebbels. Der Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Justus-Liebig-Universität in Gießen hat es in seinem Zyklus »Surrogate Cities« (Ersatz- städte) faustdick hinter den Ohren.
Hofstetter stellt die beiden ersten Sätze als Einleitung vor die Klassiker. »In the country of last things 1« (Im Land der letzten Dinge) verleiht Wolfgang Amadeus Mozarts letztem Klavierkonzert B-Dur KV 595 die besondere Note, während »In the country of last things 2« Ludwig van Beethovens 4. Sinfonie B-Dur op. 60 als Ouvertüre dient. Hofstetter lässt das Neue und das Alte attacca, also nahtlos, miteinander verschmelzen.
Goebbels hat »Surrogate Cities« 1994 zur 1200-Jahr-Feier Frankfurts komponiert und damit den flirrenden Charakter städtischen Lebens im Blick. Er fährt auf Glissandi ab, meißelt Akkordblöcke zurecht und sorgt mit Wellenbewegungen für Reibung hin ins Freitonale. Manches klingt, als hätte Strawinsky im Urlaub einen Tinnitus bekommen, endet aber glimpflich.
Schauspieler Roman Kurtz rezitiert zur Musik auf Deutsch Textpassagen aus Paul Austers Roman »Im Land der letzten Dinge«. Kurtz hat sich in den vergangenen Jahren zum verlässlichen Partner des Orchesters entwickelt, wenn es ums Verbale geht. Goebbels zeigt sich im Programmheft gespannt darauf, wie die gesprochenen Auster-Repliken auf Deutsch klingen, wird aber am Dienstag im Konzert nicht gesichtet.
Am Klavier hat William Youn mit dem Mozart leichtes Spiel. Das Perlende und Fordernde, das Differenzierende und Emotionale der drei Sätze beherrscht der Koreaner aus dem Effeff. Orchester und Solist verschmelzen zu einer prächtigen Einheit, was den Hörgenuss steigert und Youn zwei Zugaben abverlangt. Er zelebriert mit einem Lächeln das »Ständchen« von Franz Schubert und die »Widmung« von Robert Schumann, jeweils in der Bearbeitung von Franz Liszt, und heimst dafür reichlich Applaus ein.
Hofstetter versteht es einmal mehr, die Lautstärke seines Philharmonischen Orchesters Gießen wie an einem Mischpult zu regeln. Abrupte Übergänge vom Forte ins zarteste Piano gelingen so traumhaft sicher, als hätte das Orchester in den vergangenen Tagen nichts anderes geübt. Das bringt Dynamik ins Spiel und besonders beim Beethoven eine unerhörte Stimmung. Dessen vierte Sinfonie gehört nicht zu den bekanntesten. Hofstetter entfacht mit seinen motiviert agierenden Musikern in allen vier Sätzen ein musikalisches Feuer, das lodert und dann wieder fein glimmt, bevor die Spannung steigt. Rhythmischer Applaus vom wie ausgehungert wirkenden Publikum nach einer gefühlt viel zu langen Sommerpause.
Manfred Merz, 31.08.2017, Gießener Allgemeine Zeitung