Nikolaus Friedrich glänzt im Stadttheater als Solist in Lindbergs bombastischem Klarinettenkonzert / Versöhnlicher Schumann zum Abschluss
Einen Abend der schreienden Kontraste hat das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter seinem Publikum im Sinfoniekonzert am Vorabend des Nikolaustages im vollbesetzten Stadttheater beschert: Auf die populäre Peer-Gynt-Suite Nr. 1 op. 46 von Edvard Grieg (1843 – 1907) mit ihrer Nähe zum Kitsch folgte das hochvirtuose, stellenweise bombastisch auftrumpfende Klarinettenkonzert des zeitgenössischen finnischen Komponisten Magnus Lindberg (Jahrgang 1958), das nicht nur die Ausführenden, sondern auch die Zuhörer extrem herausforderte. Manchen wurde es gar zuviel, so dass sie sich in der Pause an der Garderobe die Mäntel geben ließen. So haben sie das Beste verpasst: Die bewegte, mitreißende Wiedergabe von Robert Schumanns Sinfonie Nr. 4 d-Moll op. 20 entschädigte für die schrillen Töne zuvor und das wieder versöhnte Publikum dankte mit herzlichem Applaus.
Wer kennt nicht die „Morgenstimmung“ aus der Peer-Gynt-Suite, die das süßliche Bild eines idyllischen skandinavischen Sommermorgens mit Sonnenaufgang, Vogelgezwitscher und dem frühen Licht auf den Wellen der Fjorde malt? Durch Filme, Webespots und Klingeltöne ist diese Musik inzwischen reichlich abgenutzt, doch dafür kann der arme Edvard Grieg nun wahrlich nichts. Gleichwohl kämpft heute jeder, der sie aufführt, mit der Last des Kitschverdachts. Hofstetter und seine Musiker verwandten daher sehr viel Sorgfalt auf die Mischung der Klangfarben und romantischen Stimmungen und ließen die vom Komponisten geschilderten Szenen vor dem inneren Auge des Zuhörers in feiner Zeichnung entstehen – bis zur Halle des Bergkönigs, wo das Orchester in einem atemberaubenden Crescendo ein fulminantes Ausrufezeichen setzte.
In einer virtuosen Darbietung bewies der Klarinettist Nikolaus Friedrich sodann, dass er den extremen Herausforderungen in Lindbergs Klarinettenkonzert mit spieltechnischer Noblesse gewachsen und jederzeit Herr des Geschehens ist. Lindberg, der mit Orchesterwerken in großer Besetzung international erfolgreich ist und vom Magazin „Financial Times“ als einer der „aufregendsten Komponisten seiner Generation“ gefeiert wurde, legte mit dem Klarinettenkonzert 2002 ein facettenreiches Stück vor, das Volksmelodien mit Anleihen bei Gershwin, Swing und Free Jazz mischt und vom Solisten geradezu traumwandlerische Flexibilität verlangt.
In enger Abstimmung mit dem spiel- und entdeckerfreudigen Orchester löste Nikolaus Friedrich seine Aufgabe mit einer Glanzleistung. Souverän beherrschte er die mörderischen Tempi, meisterte den mit flinken Skalen und Intervallsprüngen gespickten Solopart mit spielerischer Leichtigkeit, ließ sein Instrument in höchste Lagen springen, ließ es säuseln und wimmern, stieß spitze Kiekser aus und quetschte schrille Töne hervor – kein Genuss für Menschen mit empfindsamem Gehör, eher schon eine Tortur.
Zum Abschluss ein von Leidenschaft durchglühter Schumann: Mit tänzerischem Elan und Punktgenauigkeit ließ Hofstetter die vierte Sinfonie des Romantikers, die eigentlich seine zweite war, mit ihren zauberhaften Melodien, ihrer Zärtlichkeit und ihren kraftvollen Impulsen aufblühen. Er wählte eine zügige, sehr beschwingte Gangart, doch von der inneren Vielschichtigkeit und rhythmischen Raffinesse der Musik ging nichts verloren. Alles war wunderschön im Fluss und alles war da – die Stimmung zwischen Melancholie und überschäumender Lebensfreude im ersten Satz, die schwermütige Romanze mit Solovioline (Jiri Burian) im zweiten Satz, das mit Humor gewürzte Scherzo und schließlich das blendende Finale.
Thomas Schmitz-Albohn, 07.12.2017, Gießener Anzeiger