Drei Choreografen, drei Stile. Der Tanzabend »Lyrical« zeigt im Stadttheater den Menschen von seiner gefühlsbetonten Seite. Dabei spielen Sehnsucht und Verbote eine ebenso große Rolle wie Liebe, Macht und Krieg.
Der Tanz der Haare wird zum Hit. Da ist zum einen das Allegretto im Dreivierteltakt aus Dmitri Schostakowitschs achtem Streichquartett, ein stimulierender Walzer voll feinster Ironie. Und da sind zum andern die Tänzer, die, zum Quintett aufgestellt, mit ihren Mähnen vorm Gesicht darauf warten, im Rhythmus die Köpfe zu schütteln, ohne Haarspalterei zu betreiben. Nach diesem zuckenden Beginn fahren die fünf auf der leeren Bühne hin und her, obwohl sie ja eigentlich laufen, und zeigen stimulierende Rochaden im haargenauen Timing. Die erfahrene und ausdrucksstarke Mamiko Sakurai hat dabei den Bogen ebenso raus wie die junge Clara Thierry, die neuerlich eine fabelhafte Leistung zeigt.
Moritz Ostruschnjak hat diese stilistische Kostbarkeit auf dem eigens dafür ausgelegten roten Tanzteppich erdacht. Sie lässt bis nach der Pause auf sich warten und trägt den Titel »DSCH« – die Tonfolge D-Es-C-H steht für die Initialen des Komponisten, die er in diesem Streichquartett als eigenen musikalischen Nachruf notierte. Der gebürtige Marburger Ostruschnjak, der in München als freischaffender Künstler lebt, gehört zum Choreografen-Dreigestirn der ersten Tanzpremiere am Stadttheater in dieser Spielzeit, die am Samstag im Großen Haus Premiere feierte. Den dreiteiligen Abend mit dem Titel »Lyrical« runden Gießens Tanzdirektor und Choreograf Tarek Assam und seine Kollegin Dominique Dumais ab. Es geht dieser Troika nicht ums Erzählen einer Geschichte. Es geht ihr um einen mal fordernden, mal lyrischen Sound, der die menschliche Seele abbildet in all ihren von Wünschen, Zwängen und Sorgen befallenen Facetten.
Auch Dumais verwendet für ihre Choreografie ein Streichquartett von Schostakowitsch, das fünfzehnte und letzte des russischen Meisters, das als sein Requiem gilt. Der Komponist war ein Leben lang Grenzgänger – auf der einen Seite politischer Repräsentant der eigenen Kunst, auf der anderen Seite stets im inneren Widerstand gegen die Zwänge der Diktatur. Dumais stellt bei ihrem Stück »After/Before/Now« alle 14 Tänzer der Compagnie in erdfarbenen Kostümen (Ausstattung: Lukas Noll) auf die ebenfalls leere Bühne. Die designierte Ballettdirektorin des Main-Franken-Theaters in Würzburg versucht in ihrer Arbeit, in die Gedankenwelt des kranken Komponisten einzutauchen. Sein Zeitgefühl scheint in der kargen Instrumentierung zu schwinden. »Man weiß nicht so genau, ob man in dieVergangenheit, Gegenwart oder Zukunft blickt«, hatte sie vor der Premiere gesagt und lässt nun die Tänzer in Soli, Duetten und als Gruppe agieren, Empfindungen nachspüren, Verbote erfahren, Macht ergreifen. Die Ensembleszenen gelingen mit Aplomb. Caitlin-Rae Crook zeigt ihr Können in einer Zitterpartie im Wortsinn. Für die stimmungsvolle und elektronisch verstärkte Live-Musik des Schostakowitsch sorgt in beiden Fällen im Bühnenhintergrund das gut aufgelegte und sicher aufspielende Eliot Quartett.
Tanzdirektor Assam wählte für sein Stück »Clear Shadows« sieben Kunstlieder aus dem »Spanischen Liederbuch« von Hugo Wolf aus, die Mezzosopranistin Marie Seidler und Pianist Daniel Heide auf der Bühne interpretieren. Der Flügel steht dazu auf halber Höhe im Orchestergraben. Über der drängenden Szenerie schwebt dazu ein unheimliches Damoklesklavier. Wolf definiert denn auch sein »Spanisches Liederbuch« als eine Gratwanderung zwischen romantischer Gefühlslage und Todessehnsucht. Assam lässt die Tänzer im Military-Look zu den innigen Klängen mit einer mannshohen Gliederpuppe hantieren. Es gelingt ihm eindringlich, Gefühlslagen tänzerisch zu formulieren. Die Puppe dient als Projektionsfläche der Begierden. Sven Krautwurst und Bayarbaatar Narangerel setzen sich ebenso wie Magdalena Stoyanova mit Nachdruck in Szene. Die intensiv singende Seidler erhält mit ihrem Pianisten nach dem Stück den lautesten Beifall. Im langen Schlussapplaus werden noch einmal alle Akteure vom gut besuchten Haus ausführlich bejubelt.
Manfred Merz, 09.10.2017, Gießener Allgemeine Zeitung