Offenbach gilt in Deutschland leider nicht gerade als Kassenmagnet. Und wenn es sich dann noch um einen Titel wie „Häuptling Abendwind“ handelt, dann braucht es schon Mut, dass Stück anzusetzen. Die Erwartungen könnten falsch sein. Denn wir sind nicht im Wilden Westen, sondern in der Südsee. Dort regiert - dank der Textbearbeitung von Wolfgang Hofmann – ein Staatsoberhaupt, das durch und durch Philosoph ist. Das die grauen Zellen des Publikums anregt - und sein Zwerchfell. Große und mutige Kultur-Groteske mit schönen Stimmen und feinem Orchesterchen in kleinem Theater. Sehr witzig.
Die FROSCH-Begründung für "Häuptling Abendwind" in der Inszenierung von Wolfgang Hofmann
„Zivilisiert werden ist ein Unglück"
"Schau dir nur die Nachbarinseln an, die entdeckt sind – und was inzwischen aus ihnen geworden ist. Mir kommt kein Entdecker in die Hütte!“
Häuptling Abendwind ist ein Philosoph
Egal, was er tut, um was es geht – er bringt die Gehirnwindungen seiner Mitmenschen auf Touren. Selbst wenn sie im Publikum sitzen. Und er pocht auf seine Kultur: Kannibalismus hat nämlich auch seine gute Seiten.
Trotzdem muss der Häuptling am Ende dazulernen: Besser ist es, sich mit Bärenfleisch zu begnügen. So bleiben wenigstens Ehefrauen und Kinder erhalten. Immerhin hängt man an denen noch mehr als an der eigenen Kultur.
Ausgezeichnete Besetzung
Das Stadttheater Gießen hat vier erfahrene Opernsänger und einen Schauspieler auf die extra gebaute, drehbare kleine Studiobühne gestellt. Samt einer siebenköpfigen Kammermusik-Besetzung auf der Basis eines Holzbläserquintetts (plus Cello und Klavier), alles Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Gießen. Und dieses kleine Ensemble bringt das Haus zum Kochen. Die Darsteller parlieren Bayerisch, Hessisch und mit englischem Akzent, singen und spielen, was das Zeug hält - und verleihen so den unzivilisierten Kannibalen eine verdammte Ähnlichkeit mit lebenden Personen.
Das ist witzig, frech, frisch und macht Laune, vor allem macht es das auf bunten Liegestühlen sitzende Publikum von Minute zu Minute kichernder, lachender, prustender.
Auf der kleinen Insel-Drehbühne
Sieben Musiker zart kostümiert sitzen im Kreis und spielen beschwingt – sogar, wenn die Bühne von Hand gedreht wird. Das ergibt einen wunderbaren Surround-Klang nach Gießener Art, obwohl es sowohl für die Musiker als auch für die sich weit im Raum bewegenden Sänger nicht einfach ist, dabei präzise, homogen und synchron zu bleiben. Auch die einzige Sprechrolle – der Koch – schlägt sich gut. Nur am Ende ist er etwas verloren, wenn sich alle anderen im übertragenen Sinne in den Armen liegen.
Große Themen und großer Witz
Das gehört in dieser Inszenierung zusammen. Regisseur Wolfgang Hofmann spickt seine Textbearbeitung mit vielen Ideen, durchzieht sie mit philosophischen, theologischen, politischen oder sozialen Anspielungen. Etwa wenn es darum geht, dass Eltern sich nach Freud-Art gerne ihre Kinder einverleiben. Oder darum, dass Kannibalen die besseren Menschen sind, weil sie wenigstens ihren Gott nicht essen (und sei es in Form von geschmacksneutralem Gebäck, wie es eine ausländische Religion verlangt). Trotzdem wird am Ende der heilige Bär doch gefressen, damit der Sohn als zukünftiger neuer Vater überlebt.
Fazit: Aktuell und zeitlos, modern und grundlegend gültig, ernst und unglaublich witzig. Das alles geht zusammen in dieser Inszenierung.
Findet das Team vom Operetten-Boulevard auf BR-KLASSIK. operette@br.de
Steckbrief
"Häuptling Abendwind" auf der taT-Studiobühne im Stadttheater Gießen in der Inszenierung on Wolfgang Hofmann
Los geht's
… mit einem musikalischen Gewitter und – als es vorbei ist – einem philosophischen Dialog darüber, ob man über etwas sprechen kann, das NICHT zu hören ist. Denn schließlich ist ja das Meiste NICHT zu hören.
Überraschung:
Eine kleine Black-Box kann zur Südseeinsel werden. Nur durch eine winzige Drehbühne samt zart kostümiertem Kammerorchester, gemalten Palmen, fünf modern gekleideten Darstellern und vor allem: einem Publikum auf bunten Liegestühlen.
Gelungenste Szene:
Staatsbankett bei Kannibalens. Das Essen schmeckt, nur die Zutaten sind seltsam. Eine goldene Uhrkette – die kann der Gast wieder herauswürgen – und eine Taschenuhr. Die bleibt im Magen, macht Blähungen und tickt. Dem Gastgeber dämmert langsam, wessen Uhr das ist.
Verblüffend:
Kannibalen-Häuptling Biberhahn hat offensichtlich beim Staatsbankett seinen Sohn gefressen. Da kommt statt eines weißen Schwans ein weißer, heiliger Bär. Der kann gut tanzen und bringt tatsächlich die Erlösung.
Mutig, anders, neu:
Häuptling Abendwind ist eine schwarzhumorige Groteske – von Offenbach als „indianische Faschingsburleske“ angelegt. Kann uns das erreichen? Es kann! Regisseur Wolfgang Hofmann hat das Stück durch und durch gespickt mit philosophischen Gedanken, politischen Anspielungen, religiösen Querverweisen und sozialen Anmerkungen. Das trifft den Nerv und das Hirn. Eigentlich zeitlos, andererseits sehr aktuell. Und unglaublich witzig.
Herausragend:
Gestandene Opernsänger aus dem großen Haus auf einer kleinen Studio-Bühne mit kleinem, feinen Orchester in einer Groteske praktisch mitten im Publikum. Das braucht große Präzision und Präsenz gepaart mit viel Bewegung, viel Spielfreude und Know-how. Hier alles beisammen!
Aha-Effekt:
Wenn ein Publikum fast das halbe Stück lang nicht applaudiert sondern nur leise kichert – kann das viel heißen. Wenn die Leute am Ende aber mit Lachtränen in den Augen wild klatschen und trampeln – dann hat Offenbach auch im Jahr 2016 geklappt. Aha.
Berührend:
Mitten im Kannibalen-Trubel wird dem Gastgeber bewusst, dass er den Sohn des Gastes im wahrsten Sinne des Wortes verbraten hat und es nun sagen muss. Das ist unter all den Lach-Salven der Moment, wo das Publikum den Atem anhält.
Entstaubt und zeitgemäß
Kannibalen in der Südsee sinnieren darüber, ob sie so leben wollen wie die „Kultivierten“. Oder ob sie eine eigene Kultur haben, die erhaltenswert ist. Sie schauen in die Zukunft und sehen die Folgen falscher Zivilisation. Das ist heute aktueller denn je.
Sei kein Frosch, küss ihn:
Prinzessin I. vom Operettenboulevard ist überzeugt und gratuliert der Intendantin – und auch dem Ensemble – zum Operettenmut.
BR-Klassik, Dezember 2016