Kluger Klamauk trifft auf schmissige Musik. Regisseur Balázs Kovalik macht aus Kálmáns »Herbstmanöver« eine Parabel über die Liebe. Ob die Operette das im Stadttheater unbeschadet übersteht?
Ein schwuler Husar, zwei philosophierende Diener, ein Liebespaar, das unfreiwillig nach Mutter und Sohn aussieht – nicht oft bietet sich einem Regisseur Gelegenheit, so tief in die Substanz eines Werkes einzugreifen. Balázs Kovalik hat die Gunst der Stunde für seine erste Operetteninszenierung genutzt und Charaktere umgedeutet, Rollen erweitert, modernisiert, politisiert und skurril aufgepeppt. Ergebnis ist eine Parabel über die Liebe. Kovalik, der mit seiner Kindergarten-Inszenierung von Händels »Agrippina« vor vier Jahren Stadttheatergeschichte schrieb, zieht nun im Großen Haus ins »Herbstmanöver« des Ungarn Emmerich Kálmán, das bunter kaum sein könnte.
Das verspielte Kleinod wird in Gießen zum spartenübergreifenden Großprojekt. Neben Musikern und Sängern stehen auch Schauspieler und Tänzer auf der Bühne und machen aus dem vermeintlich alten Schinken einen veritablen Leckerbissen. Dennoch ist Kálmáns »Herbstmanöver« eine Operette mit zwei Gesichtern: Hier die Liebestragödie, dort das ausgelassene Treiben der Damen mit den Husaren. Als Schnittstelle fungieren zwei Diener, die im Budapester Original weit weniger Bedeutung haben als in der Gießener Fassung. Wenn im zweiten Durchgang nach einer Massenszene und der Drehbühne im Dauerbetrieb mehr Theater zelebriert als Operette gesungen wird, erklärt das auch die Spieldauer von fast drei Stunden.
Ausstatter Lukas Noll hat für den ersten Abschnitt weiße Unschuldskostüme ersonnen. Nach der Pause tragen die Damen edle Abendgarderobe, wird aus der Husarentruppe die Rote Armee. Aktuelle Seitenhiebe auf Air Berlin und zeitgeschichtliches Kolorit à la »Titanic«-Überheblichkeit als Spiegelbild der Gesellschaft gehören dazu. Nolls Bühnenbild zeigt einen Ballsaal, der schiffsrumpfartig ausgeschnitten ist.
Die gut 100 Jahre alte Musik hat Generalmusikdirektor Michael Hofstetter mit seinem Philharmonischen Orchester im Graben im Griff. Auch wenn nach der Pause ein Stück aus dem ersten Durchgang als Popmusik vom Band eingespielt wird, das Orchester einige »Titanic«-Takte intoniert und zwei Nummern aus einer weiteren Kálmán-Operette addiert werden, setzt Hofstetter aufs Original. Der Walzer seiner inspiriert aufspielenden Musiker klingt nach Seligkeit, der Csárdás verfügt über Saft und Kraft.
Höhepunkt des Abends ist Bariton Tomi Wendt in der Rolle des Juden Wallerstein. Da heutzutage nur noch Woody Allen Judenwitze reißen darf, wird der Gießener Wallerstein zum Homosexuellen umfunktioniert. Anfangs weiß er das nicht so genau, aber als dieser Wallerstein auf Diener und Gutsverwalter Kurt trifft (bemerkenswert: Rainer Hustedt), mausert sich das »Pumper-Duett« zu einem generös gespielten und gesungenen Selbstfindungstrip. Der Text und zwei weitere gereimte Unikate stammen aus der Feder von Musikdramaturg Matthias Kauffmann.
Rainer Domke gibt den zweiten Diener mit jener Noblesse, die nur Domke beherrscht. Bariton Grga Peroš ist ein Oberleutnant von Lörenthy mit eindringlicher Stimme. Die einfühlsam interpretierende Sopranistin Christiane Boesiger will als gereifte Baronin Riza nicht zu diesem ungestümen Leutnant passen. Tenor Clemens Kerschbaumer zelebriert als Nachwuchshusar sein »Kusslied«, während Harald Pfeiffer in der Partie des Feldmarschalls so richtig vom Leder ziehen darf. Marie Seidler als seine Tochter Treszka ist über jeden Zweifel erhaben, das Sextett der schlüpfrig-feinen Damen agiert mit Aplomb, ebenso wie Geiger Robert Varady. Einen Ohrwurm gibt es in der Operette auch: Das Marschlied, das die Soldaten zu Popstar-Größe heranreifen lässt – »Heißa Husaren!«. Am Ende der Premiere vom Samstag spendet das Publikum Kovaliks klugem Klamauk minutenlangen Applaus.
Manfred Merz, 29.10.2017, Gießener Allgemeine Zeitung