Carl Orffs »Carmina Burana« ist ein Meilenstein in der deutschen Musikgeschichte. Dirigent Jan Hoffmann nimmt das Großprojekt im Stadttheater erfolgreich in Angriff. In Wetzlar geht es nächste Woche noch einmal über die Bühne.
Das Glücksrad der Fortuna rollt durchs Stadttheater. Es hat magische Anziehungskraft und vereint Konzert, Oratorium, Oper und lateinischen Gesang zu einem Werk. Carl Orffs »Carmina Burana« füllt im Rahmen der Sinfoniekonzerte am Dienstagabend das Große Haus bis auf den letzten Hörplatz unterm Dach. Der stellvertretende Generalmusikdirektor Jan Hoffmann nimmt damit nach Verdis »Messa da Requiem« (2013) und Mendelssohn Bartholdys »Elias« (2016) neuerlich ein Großprojekt in Angriff. Neben dem Philharmonischen Orchester Gießen stehen mit Antje Bitterlich, Grga Peroš und Clemens Kerschbaumer drei exquisite Solisten sowie die Wetzlarer Singakademie, der Gießener Konzertverein und der Chor samt Kinder- und Jugendchor des Stadttheaters bereit. Am Ende applaudiert das begeisterte Publikum minutenlang.
Geboten wird Welttheater mal anders. »Carmina Burana« lautet der Name einer Anthologie von mehr als 200 mittelalterlichen Lied- und Dramenhandschriften, die in der Bibliothek des Klosters Benediktbeuern entdeckt wurden. Orff nutzt für seine Komposition, die in gut 70 Minuten impulsiv vorüberrauscht, 24 der weltlichen Texte in geänderter Zusammensetzung. Er erzählt vom Erwachen der Natur im Frühling, von der Begegnung mit dem Wein und von der Liebe, in der auch die Triebe eine Rolle spielen. Schon bei der Uraufführung 1937 in der Frankfurter Oper wurde seine »Carmina Burana« bejubelt. Doch die auf Latein gesungenen Vagantenlieder kamen den Nazis spanisch vor, weshalb die zweite Aufführung ziemlich applauslos über die Bühne ging. Dennoch setzte sich die »szenische Kantate«, wie Orff sein rhythmisch starkes, effektvoll komponiertes Stück nannte, weltweit durch.
Hoffmann tut am Dienstag gut daran, ein flottes Tempo vorzugeben. Das bestens aufgelegte Orchester folgt ihm auf dem Fuße, die Chöre singen sauber ausbalanciert vom zarten Piano bis zum energischsten Forte. Sopranistin Bitterlich, in Gießen als Rigolettos Tochter Gilda und als Königin der Nacht in glänzender Erinnerung, intoniert mit traumhafter Sicherheit und ebensolchem Einfühlungsvermögen. Bariton Peroš absolviert das größte Pensum der Solisten und wechselt gekonnt vom lyrischen Part hinüber zum Heldenbariton. Kerschbaumer als verbrannter Schwan zeigt stimmlich und mimisch eine Glanzleistung. Sein hörbar gereifter Tenor wird dem Stadttheater fehlen. Kerschbaumer verlässt am Ende dieser Spielzeit das Haus.
Wenn am Schluss der pulsierende Anfang »O Fortuna velut luna statu variabilis« (Schicksal, wie der Mond so veränderlich bist du) wiederholt wird und das Werk im kurzen Klangrausch kulminiert, hat Hoffmann am Pult noch immer alles unter Kontrolle. Das Timing sitzt bis zum finalen Akkord. Jubel brandet auf. Doch die Schicksalsgöttin meint es nicht gut mit dem Publikum. Der Dirigent verwehrt eine Zugabe. Das wird Hoffmann beim zweiten Konzert in der Rittal-Arena (25. Mai, 20 Uhr) mit einem neuerlichen »O Fortuna« wohl ändern müssen.
Manfred Merz, 16.05.2018, Gießener Allgemeine Zeitung