Nicht nur in Merkels Berlin wird eifrig sondiert - auch auf der Theaterbühne bei Jean-Paul Sartre (1905 bis 1980). "Wenn es um das Interesse der Nation geht, zählen Gefühle nicht", sagt eine seiner Figuren und stellt über den erfolgreichen Verlauf der Gespräche befriedigt fest: "Die Positionen haben sich glücklicherweise einander genähert, und jeder von uns hat eine großzügigere Ansicht von dem Standpunkt des anderen gewonnen."
Was sich nach aktueller Tagespolitik anhört, hat freilich schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel. 1948 brachte Sartre sein Drama "Die schmutzigen Hände" heraus, das vom Umgang mit der Macht handelt und von Menschen, die, wie der Titel schon sagt, sich in der Politik die Hände schmutzig machen. Gastregisseur Hüseyin Michael Cirpici hat daraus ein spannendes politisches Lehrstück über gnadenlose Richtungs- und Glaubenskämpfe gemacht, das bei der Premiere am Samstagabend im voll besetzten Haus mit kräftigem Beifall aufgenommen worden ist.
Im Lauf der Jahre haben die "Schmutzigen Hände" natürlich Patina angesetzt, und vier Stunden Spielzeit wie im Original wären einem Publikum heute kaum noch zuzumuten. Cirpici hat also bei seiner dramaturgischen Vorarbeit gut daran getan, den Text zu straffen, von Redundanzen zu befreien und die Handlung im Stile eines Politthrillers auf das Wesentliche konzentrieren. Die so gekürzte Version dauert nun etwas über zwei Stunden und wirkt wie eine Frischzellenkur für Sartres existenzialistisches Theater. Und dadurch, dass das Geschehen aus den letzten Kriegstagen irgendwo in Osteuropa in eine unbestimmte Gegenwart verlegt und unaufdringlich aktualisiert wurde, sind an diesem Theaterabend immer wieder Parallelen zum politischen Tagesgeschäft zu entdecken. Jedenfalls wird einem beim Zuschauen und Hinhören keine Minute zu lang. Dass der Mensch nach Ansicht des Existenzialisten Sartre zur Freiheit verdammt ist und allein verantwortlich für seine Entscheidungen ist, ist dabei eine, wenngleich nicht die allerneueste Erkenntnis.
Bühnenbildnerin Sigi Colpe, die sich zum ersten Mal mit einer Arbeit in Gießen vorstellt, zeigt in ihrem Einheitsbild einen großen Quader über den Köpfen der handelnden Personen. Von diesem Block geht ein eigentümlicher, fahler Glanz aus. Er symbolisiert die Macht der Partei, der sich alle unterordnen müssen. Unter dem lastenden Quader vor schwarzem Hintergrund sieht man den jungen Intellektuellen Hugo aus gutem Hause, der die Welt verändern will und sich der kommunistischen Partei angeschlossen hat. Er will die Revolution vorantreiben, will die große Tat vollbringen, die ihm aber keiner so recht zutraut. Doch dann wird er auf Parteisekretär Hoederer angesetzt, der angeblich von der Linie abweicht, und soll ihn ermorden. Mit seiner Frau Jessica zieht er bei Hoederer ein. Beide sind von der Persönlichkeit des charismatischen Parteisekretärs stark beeindruckt, und bald überkommen Hugo Zweifel an seinem Auftrag. Am Ende fällt der tödliche Schuss doch.
Wenn Hugo und Jessica bei Hoederer ihre neue Wohnung beziehen, öffnet sich die Rückwand und man blickt in einen großen Holzkasten, der bis auf die beiden Koffer des jungen Paares völlig leer ist. Die Parteizentrale liegt ein Stück weiter auf der Hinterbühne. Hier stehen mehrere Tischchen mit Schreibmaschinen (warum keine Computer?), eine Kaffeemaschine, Geschirr und eine Karaffe mit Cognac, aus der sich der mächtige Parteiführer ab und zu einen genehmigt.
Durch die Kargheit der Szene kommen das gesprochene Wort und die Konflikte in der Auseinandersetzung umso klarer zur Geltung. Zur Wirkung trägt auch die umsichtige, kluge Personenführung der Regie bei, die den Schauspielern genügend Freiraum zugesteht, um die jeweiligen Figuren zu entwickeln.
Hugo ist der Hamlet unter den Revolutionären - unfähig zur Tat wie bei Shakespeare. Maximilian Schmidt spielt den ständig mit sich hadernden Intellektuellen wie ein störrisches, quengelndes Kind im Schmollwinkel, das seinen Mitmenschen gehörig auf die Nerven geht. Im weiteren Verlauf zeigt uns Schmidt einen jungen Mann, der daran Gefallen zu finden scheint, sich geradezu inbrünstig in die Märtyrerrolle hineinzusteigern. Bei Paula Schrötter als seine Frau Jessica hat man den Eindruck, als übe sie für eine Rolle beim Kinderkanal. Immerzu lächelnd und grinsend macht sie aus dieser Frauenfigur ein albernes, keinesfalls ernst zu nehmendes Gänschen.
In der souveränen Verkörperung durch Lukas Goldbach erscheint der Parteisekretär Hoederer als ein Mann, der nichts unbedacht tut und seine Mitmenschen durchschaut. Seinen Gesprächspartnern ist er immer eine Nasenlänge voraus und weiß schon, ehe sie den Mund aufmachen, was sie sagen wollen. Nur ein einziges Mal schätzt er die Situation falsch ein - und das kostet ihn das Leben. Anne-Elise Minetti gibt als glühende Parteisoldatin Olga eine überzeugende Vorstellung. Ihr fanatischer Eifer wirkt durchaus glaubwürdig. Egal, ob Thomas Wild den rücksichtslosen Revoluzzer Louis, den groben Leibwächter Georges oder den Nationalisten Karsky mimt, er ist immer eine Spur zu aufgeregt und laut polternd unterwegs. Stephan Hirschpointer lässt als Leibwächter Slick und Prinz die Muskeln spielen.
Thomas Schmitz-Albohn, 15.01.2018, Gießener Anzeiger