Mit großem Jubel ist die Premiere der Oper "Ariadne auf Naxos" von Richard Strauss am Samstagabend im voll besetzten Stadttheater vom Publikum aufgenommen worden. Für die famose Sängerin Annelie Sophie Müller in der Hosenrolle des Komponisten regnete es aus den Rängen gar Blumen. Unter der einfühlsamen, psychologisch ausgeklügelten Regie des 84-jährigen Altmeisters Hans Hollmann nimmt das Operngeschehen, in dem Witz und Empfindsamkeit dicht beieinanderliegen, die Zuschauer von Anfang an gefangen, und das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter bringt die kammermusikalisch angelegte Partitur allenthalben zum Leuchten. Die vielen vorzüglichen Gesangsdarsteller setzten aber dem zweieinhalbstündigen Abend erst so recht die Krone auf und lassen die Aufführung zu einem rauschenden Fest der schönen Stimmen werden.
Damit ist dem Gießener Musiktheater wiederum ein großer Wurf gelungen, der gewiss auch über die Region hinaus Aufmerksamkeit erregen und Hochachtung erringen dürfte.
"Ariadne auf Naxos" ist ein Wunderwerk voller Esprit, Eleganz und zauberhafter Melodien, in dem Humor, Ironie und Emotionalität eng verflochten sind. Es geht um Höhen und Tiefen des Künstlerdaseins, um Treue und Untreue und um die Probleme des Menschseins schlechthin. In dem Geniestreich aus der fruchtbaren Zusammenarbeit von Richard Strauss und dem Dichter Hugo von Hofmannsthal trifft Mythos auf Moderne, verschmelzen Stegreiftheater und Opera seria zu einer Einheit. Figuren der Commedia dell'arte wie Zerbinetta, Scaramuccio und Harlekin treffen auf den antiken Ariadne-Mythos.
Der junge Komponist ist außer sich. Alles fiebert der Premiere seiner heroischen Oper "Ariadne" entgegen - doch der reiche Auftraggeber findet das fertige Werk sterbenslangweilig. Und ausgerechnet die Komödiantentruppe um die leichtlebige Zerbinetta soll die ernste Handlung auflockern. Die Künstler protestieren vergeblich; beide Truppen, die komische und die pathetische, müssen improvisieren - denn schon öffnet sich der Vorhang zur Oper in der Oper. Das Spiel auf zwei Ebenen beginnt.
Hollmann verweist in seiner Inszenierung auf die kulturelle Fülle des Fin de Siècle und führt das Publikum in die Entstehungszeit der 1910er Jahre. Entsprechend ist das turbulente Vorspiel im damaligen Wien verortet: Wir befinden uns im Haus des reichsten Mannes von Wien, der sich als echter Kunstbanause entpuppt, und blicken in dem von Lukas Noll geschaffenen Raum auf die graue Hinterbühne eines Schlosstheaters mit hohen Wänden und verschiedenen Türen zu den Künstlergarderoben. Hier wuselt das Künstlervolk kurz vor dem großen Auftritt wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen umher. Da weiß noch keiner, dass alles ganz anders kommt.
Im zweiten Bild hat sich die wüste Insel, auf der Ariadne von Theseus zurückgelassen wurde, in ein düsteres Trauerzimmer verwandelt, in dem die Erinnerungen an Theseus lebendig sind. Theseus auf einem Gemälde und Theseus als Statue schauen auf das Bett hernieder, auf dem sich Ariadne voller Selbstmitleid ihrer Todessehnsucht hingibt. Ein blauer, rundumverlaufender Vorhang (aha, Meer!) begrenzt den Raum. Die Nymphen (Natascha Jung, Sofia Pavone, Karola Pavone) sind wunderliche Fisch- und Baumwesen, die von oben herabschweben und sich bei ihrem betörenden Gesang im Auf und Ab der Wellen wiegen. Und wenn am Ende der junge Gott Bacchus auf der Insel landet, steht er vor tosender Brandung, die im Hintergrund als Videoeinblendung gezeigt wird.
Die einprägsamen, sinnfälligen Bilder sind Ergebnis einer ausgefeilten Personenregie, die behutsam jede der Figuren mit all ihren Ängsten und Hoffnungen ernst nimmt und seelische Vorgänge verdeutlicht. Es gibt keine Favoriten; alle finden gleichberechtigt Berücksichtigung. Gleichzeitig bricht Hollmann mit traditionellen Überlieferungen, indem er die Komödianten (Grga Peros, Pascal Herington, Thomas Stimmel, Milos Bulajic) nicht in die bunten Kostüme der Commedia dell'arte steckt, sondern sie in blütenweißen Anzügen eines Revue-Quartetts auftreten lässt. Auch Zerbinetta ist aus dem Milieu der Stegreifkomödie herausgelöst: Im Dirndl bezaubert sie als fesches Wiener Madl.
Nach dem Klangrausch des "Rosenkavaliers" und der "Elektra" ist Strauss in "Ariadne" zu einem kammermusikalischen Stil mit nur 36 Instrumentalstimmen zurückgekehrt, wobei das Klavier (Evgeni Ganev) eine wichtige, oftmals führende Rolle übernimmt. Unter dem temperamentvollen, detailgenauen Dirigat Hofstetters kommt die kristalline Klarheit und die in höchstem Maße inspirierende Musik wunderschön zum Vorschein. Die Melodien sprudeln in verschwenderischer Fülle. Stilsicher und mit feinem Gespür für Klangbalance lässt das Orchester die Strauss'sche Meisterschaft aufblitzen, durch die sich zwei gegensätzliche Welten, das tragische Pathos und die leichte Komödie, kühn überschneiden.
Gesungen wird überragend - allen voran zunächst Annelie Sophie Müller, die die Hymne des Komponisten an seine Kunst hinreißend, leidenschaftlich und flammend mit leuchtendem Mezzosopran singt. Man könnte ihren Kantilenen noch länger zuhören, doch dies ist von Strauss so nicht vorgesehen. Eine gute Figur machen auch Tomi Wendt als Musiklehrer und Clemens Kerschbaumer als Tanzmeister.
Im schwarzen Trauerkleid füllt Dorothea Maria Marx die Titelrolle mit immenser Intensität und Dramatik aus. Ihre Stimme durchläuft scheinbar mühelos die Skala vom zart hingehauchten Pianissimo bis zum extrem gesteigerten Fortissimo, und in die Bravourarie "Es gibt ein Reich" streut sie geradezu suggestive Töne. Bacchus, den Ariadne für den Todesboten Hermes hält, kommt äußerlich als lässig-sportlicher Typ daher. Doch stimmlich ist Michael Siemon jederzeit ein strahlender Held, der sich mit lupenreinen Circe-Rufen ins Geschehen einklinkt und auch sonst seinen kernigen Tenor sehr wirkungsvoll zur Geltung bringt.
Als Zerbinetta ist Diana Tomsche einfach bezaubernd. In Gießen erlebte man sie einst als Königin der Nacht, doch in dieser Rolle brilliert sie als Königin der Koloraturen. Zudem spielt sie die leichtlebige Frau auf erfrischende Art, ist sowohl keck als auch anrührend und verschafft uns in ihrer ausgedehnten Koloraturarie "Großmächtige Prinzessin" einen tiefen Einblick in die weibliche Psyche und eine Verbundenheit mit der trauernden Ariadne.
Nicht vergessen werden darf Harald Pfeiffer, der herrlich hochfahrend dem Haushofmeister in seiner ganzen Wiener Hochnäsigkeit Gestalt verleiht. Man spürt förmlich, wie er genüsslich in dieser Rolle badet.
Thomas Schmitz-Albohn, 18.12.2017, Gießener Anzeiger