Auch wenn Ivan Dentler zu Beginn seines Auftritts im Theaterstudio die Erstausgabe von Heinrich Bölls ANSICHTEN EINES CLOWNS zerreißt: Sein gleichnamiges Monodrama tut dem Werk des Literaturnobelpreisträgers keine Gewalt an. Ganz im Gegenteil. Es ist eine Hommage an einen Roman, der zwar von scheinbar überholten Themen erzählt, aber mit seiner Frage nach dem Wesen von Liebe und Freiheit auch heute nochWeltliteratur ist. Das Premierenpublikum war erkennbar begeistert.
Der Gießener Regisseur Christian Lugerth und Schauspieler Ivan Dentler von der Komödie in Kiel haben Bölls Roman zur Episodensammlung verdichtet und daraus einen eineinhalbstündigen Theaterabend gemacht: intensiv und auf dem Punkt. Ihr Projekt ist in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein entstanden und wurde nach Abstimmung mit den Erben autorisiert. Böll wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Dentler spielt den Aussteiger Hans Schnier, der sich in den 1960er Jahren als Clown gegen das Spießertum der Adenauerära, den Einfluss der Nationalsozialisten, bigott-frömmelnde Katholiken und seine opportunistische Familie stemmt. Mit Clownsperücke und -puppe sitzt er nun erfolglos und saufend auf den Stufen und wartet darauf, Marie wiederzusehen, die ihn nach sechs Jahren »wilder Ehe« verlassen hatte und zum Katholizismus übergelaufen war. Zirkusmusik erklingt, wenn Schnier seine Clownspäße vorführt. Orffs »Carmina Burana« dröhnt, als sich der von Melancholie und Liebeskummer gepeinigte Agnostiker mit der Bibel in der Hand gegen die katholische Kirche auflehnt. Doch damit ist dann auch schon Schluss mit Spektakel. Der Rest ist Text – und Schauspielkunst.
Ivan Dentler, dessen Bruder Isaak Dentler erst kürzlich an gleicher Stelle Goethes »Werther« entstaubt hatte, verlässt immer wieder die Icherzähler-Perspektive, um mit veränderter Stimme in die unterschiedlichen Figuren zu springen. Die gefühlskalte Mutter, der überforderte Vater, der brutale HJGruppenführer oder der manipulative Priester kommen so zu Wort. Nur die Stimme der obsessiv geliebten Marie, der sich Hans auch ohne standesamtlichen oder priesterlichen Segen in ewiger Monogamie verbunden fühlt, erklingt aus dem Off.
Lugerth und Dentler haben Personal und Episoden des Romans forsch gestrichen und so die Essenz des Textes geschaffen. Es tut gut zu sehen, wie sehr die beiden der erzählerischen Kraft Bölls vertrauen. Auch wenn sich heute niemand mehr gegen solch engstirnige Moralvorstellungen oder den Einfluss der Kirche im Privaten auflehnen muss – Hans Schniers Kampf um Eigenständigkeit und Freiheit bleibt von zentraler Bedeutung. Was bin ich eigentlich für ein Mensch? Diese Frage schwingt mit – und sie stellt sich auch seinem Publikum im echten Leben, in dem es noch immer die Angepassten leichter haben als die Individualisten, in dem aber zugleich das Hohelied der Selbstverwirklichung gesungen wird.
Karola Schepp, 16.09.2017, Gießener Allgemeine Zeitung