Klang, Wort, Bild. Und Farbe. Bei Heiner Goebbels ist Musik mehr als die Kraft der Noten. Sein szenisches Konzert im Stadttheater treibt an. Es lebe der Rhythmus! Mittendrin: Schauspiel-Star David Bennent als Rezitator.
So richtig groß raus im Wortsinn kommt der Star des Abends nicht. David Bennent muss im grauen Anzug die meiste Zeit weit hinten auf der Bühne verbringen. Dort sitzt und steht er oder bewegt sich gemächlich schreitend. Wären da nicht die Videoprojektionen, die das Gesicht des Schauspielers ab und an überdimensional auf den transparenten Vorhang in den Vordergrund heben, man würde Bennent nur an seiner eindringlichen Stimme erkennen. Bei Regisseur Heiner Goebbels hat das Methode. Er macht aus seinem 90-minütigen Stück »Mit einem Namen aus einem alten Buch«, das im Musiktheater-Abo läuft und aus sechs miteinander verzahnten eigenen bewährten Kompositionen besteht, ein szenisches Konzert voller dreidimensionaler Gedankenwelten. Literatur, Musik und visuelle Eindrücke überlagern sich und verschmelzen zu einem neuen Sujet (Bühne und Kostüme: Goebbels und Monika Gora). Bei der Premiere am Freitagabend im Großen Haus des Stadttheaters gab es dafür reichlich Applaus.
Eine Handlung existiert nur bedingt, gesungen wird in dem avantgardistischen Werk ausdrücklich nicht. Rezitation heißt die Wortkunst. Schwergewichte aus der Literatur liefern die Textvorlagen: Altmeister Heiner Müller, Alain Robbe-Grillet, Hugo Hamilton und Rainald Goetz. An der Rezitation beteiligt ist neben Bennent die intensiv artikulierende Lisa Charlotte Friederich. Sie verleiht den Worten Substanz. Über Subs-tanz verfügen auch die 18 Musiker, die während des Abends immer wieder neue Positionen einnehmen. Die meisten von ihnen gehören zum Philharmonischen Orchester Gießen. Am Pult steht der Argentinier Pablo Druker, der das Ensemble sicher leitet.
Goebbels’ Musik verzahnt die Worte und Sätze miteinander und besteht nicht nur aus Noten und Klang, sondern setzt auch auf Samples (aufgenommene Töne und Geräusche) und bezieht den Raum, das Licht und die Körper der Erzähler und Musiker mit ein, um Neues zu schaffen: einen Sound, der mehr ist als die Partitur. Goebbels feiert zudem die Kraft der Literatur, sich die Welt immer wieder neu zu denken. So entstehen Klang-Wort-Bild-Collagen, die süchtig machen. Wenn der Rhythmus stimmt. Und das tut er. Er lässt die Füße im Takt mitwippen. Bestes Beispiel: »Surrogate«, ein siebenminütiger Powerriegel für die Ohren, das Konzentrat aus Goebbels 1994 komponiertem Stück »Surrogate Cities«, zu dem ihn der Ire Hugo Hamilton mit seinem Roman »Surrogate City« (Ersatzstadt) inspiriert hat. Das rastlose »Surrogate«, ein Plädoyer für Stimme und Orchester, hat Goebbels 2015 zu einer Trioversion für Klavier, Stimme und Percussions verschlankt. Im Stadttheater setzt der Komponist statt einem zwei Klaviere ein. Die zierliche Neus Estarellas und Korrepetitor Evgeni Ganev bearbeiten die Flügel mit Nachdruck. Das Fis spielt die Hauptrolle, Triller auf diesem Ton gibt es tausendfach, dazu gerade mal drei Akkorde. Die rhythmischen Ladungen, die eine Quart nach unten zum Cis wandern und wieder hinauf zum Grundton, rumoren, bollern, treiben an. Sie werden von Spela Mastnak am Schlagwerk und Lisa Charlotte Friederich mit hypnotischen Worten unterstützt: »Sie ist gerannt. Aus welchem Grund?... Was bringt eine junge Frau dazu zu rennen? Während des Tages? Mitten in der Stadt?« »Surrogate« ist ein Hit. Goebbels, der das Konventionelle mit intellektueller Freude verachtet, muss damit leben, Spuren zu hinterlassen.
Den dicksten verbalen Brocken des Abends steuert Heiner Müller bei. Sein »Zement«- (Theater-)Stück, dem der Titel des Konzerts entnommen ist, spielt im Urwald und erzählt vom Kampf des Herakles gegen die Hydra als eine allmähliche Verwandlung des Kämpfenden in seinen Gegner. Goebbels lässt dazu seine Komposition »Herakles 2« erklingen. Bennent hat hier seine stärksten Momente, auch wenn er bei einigen Worten hörbar »hängt«. Die Lichttechnik von Jan Bregenzer verleiht der Szenerie Spannung, die Videos von René Liebert überlagern die Realität und führen zu surrealen Momenten.
Beinahe still wird es, wenn Goebbels sich mit den Geräuschen in Alain Robbe-Grillets Roman »Die Jalousie oder Die Eifersucht« auseinandersetzt und daraus ein leises Stück formt. Zum Konzertbeginn hingegen protzt Rainald Goetz mit seinem Revolutionsbrüller »Krieg« gegen die Orchesterdynamik. Am Ende des Abends schließt sich auch optisch der nun rote Drehbühnenkreis.
Man kann den 1952 in Neustadt an der Weinstraße geborenen Komponisten, Hörspiel- und Theatermacher Goebbels, der als Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen wirkte und dort seit April eine Ehrenprofessur innehat, für seine Verquickung von Musik, Texten, Formen, Videos und Lichtspielereien zu einer pulsierenden Soundmalerei lieben oder ihn dafür verachten. Eines aber kann man nicht: Seine Konzerte langweilig finden.
Manfred Merz, 07.05.2018, Gießener Allgemeine Zeitung