Das Leben in einer WG kann eine anstrengende Sache sein: Da gilt es Rücksicht zu nehmen, Nähe auszuhalten, die anderen mit den eigenen Befindlichkeiten nicht über Gebühr anzustrengen und vor allem das Bad nicht ständig zu blockieren. Doch manchmal hilft alle eingeübte Toleranz nicht weiter und die Karten müssen auf den Tisch. An solch einem Abend befinden sich die fünf Bewohner eines schicken Gießener Altbaus in dem Stück "Willkommen", das Cathérine Miville nun auf die Bühne des Stadttheaters gebracht hat. Am Samstagabend feierte die Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz ihre Gießener Premiere.
Mit dem erfolgreichen Dramaturgenduo hat die Intendantin und Regisseurin bereits beste Erfahrungen gemacht. Zuletzt nahm sie sich des Erfolgsstücks "Frau Müller muss weg" an, das gleich drei Spielzeiten lang auf dem Programm des Hauses stand und von dem Kampf einer Grundschullehrerin mit rabiaten Eltern erzählt. Und wie damals ist auch "Willkommen" ein Kammerspiel, das nur einen Ort, nur ein Ereignis braucht, um Auskunft über die Befindlichkeiten der bürgerlichen Mittelschichtsgesellschaft zu geben - mit den entlarvenden Mitteln der Komödie.
Anlass diesmal ist ein Phänomen von brennender Aktualität: Es geht um den Umgang mit Flüchtlingen. Der Anglistikdozent Benny (Christian Fries) hat eine auf ein Jahr befristete Stelle in New York ergattert. Und nun unterbreitet er seinen vier überraschten Mitbewohnern beim gemeinsamen Abendessen den Vorschlag, während seiner Abwesenheit Flüchtlinge in sein WG-Zimmer einziehen zu lassen.
Ein Altbau in Gießen
Angesichts des Milieus, das sich hier besichtigen lässt, scheint das ein durchaus honoriges Anliegen zu sein. Denn auch Doro (Ewa Rataj), Sophie (Paula Schröter), Anna (Lotta Hackbeil) und Jonas (Karsten Morschett) können sich grundsätzlich auf Werte wie Solidarität, Liberalität, Gemeinsinn und Offenheit einigen - doch nun wird es plötzlich konkret. Und so einig wie es zunächst schien, ist die zunächst so miteinander vertraut scheinende Gruppe dann eben doch nicht - aus ganz unterschiedlichen Gründen, wie sich im Verlauf der folgenden knapp 80 Minuten Spielzeit noch herausstellen wird.
Cathérine Miville und ihr Bühnenbildner Lukas Noll haben dafür den Schauplatz der Komödie mittels einiger behutsamer Andeutungen nach Gießen verlegt. Und das passt ausgezeichnet, bringt es dem Publikum das Thema dieser im Frühjahr in Düsseldorf uraufgeführten Komödie gleich noch ein wenig näher. Aus dem Wohnzimmer haben die WG-Bewohner und ihre Zuschauer einen Ausblick auf einen Hinterhof mit einigen schönen Gründerzeitfassaden und grün gepflanzten Balkons. Dozent Benny arbeitet ehrenamtlich in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Rödgener Straße. Das letzte erfolglose Kunstprojekt der von ihrem Vater alimentierten Vermieterin Sophie bestand aus schwarz-weißen Fotografien von leeren Schaufenstern in Heuchelheim. Die biedere Studentin Anna stammt aus dem katholischen Fulda und ihr später zu der Gruppe stoßender Freund Achmed (Stephan Hirschpointner) leitet ein Sozialhilfeprojekt im Marburger Waldtal.
Diese Geschichte "hat etwas mit den Menschen hier zu tun", sagte Regisseurin Miville dazu vor wenigen Tagen beim Pressegespräch. Die lokale Verortung erleichtert die Identifikation mit den fünf Figuren, deren ganz unterschiedlichen Argumenten und Standpunkten man im Verlauf dieses temporeichen Theaterabends ebenfalls durchaus folgen kann. Und gerade das macht die Sache spannend.
Den Stein des Ärgers ins Rollen bringt die selbstbewusste Doro, die den Vorschlag Bennys als einzige rundheraus ablehnt. Arabische Männer seien ihr ein Graus, sagt diese alleinstehende Frau, die den Feminismus gegen konservative Rollen- und Geschlechterbilder in Stellung bringt. Der nette Jonas bangt um seine Ruhe, die er als Bankangestellter in Probezeit für unbedingt nötig erachtet. Und Anna würde das Zimmer viel lieber an ihren neuen türkischen Freund Achmed vermietet sehen. Nur Sophie stellt sich auf Bennys Seite - doch auch diese Beziehung hat eine komplizierte Vorgeschichte.
Und so zeigen Regisseurin Miville und ihr ausgezeichnet aufgelegtes Ensemble - darunter gleich vier neue Gesichter - tatsächlich kein Stück, das sich tiefergehend mit der Flüchtlingsfrage beschäftigt. Vielmehr gelingt es dem Ensemble mit "Willkommen", Menschen zu zeigen, die hinter ihre Fassaden blicken lassen. Ähnlich wie ihre französische Kollegin Yasmina Reza nutzt das Dramatikerduo Hübner und Nemitz einen dramatischen Aufhänger, um komplexe Charaktere freizulegen, mit all ihren Stärken und Schwächen. Dabei kommt es zu cleveren Dialogen und treffenden Sätzen. Etwa wenn Sophie ihrem vermeintlich so zugewandten Ex-Freund Benny vorwirft: "Du hörst nicht zu. Du wartest, bis du dran kommst. Das ist ein Unterschied." Und gleichzeitig bleibt immer noch ausreichend Platz, um Witz, Komik und sogar ein wenig Slapstick einzustreuen, ohne das Thema damit zu verflachen. Eine gelungene Komödie wie diese macht die Dinge in der Überzeichnung, in der Überspitzung kenntlich. Am Ende dieser knappen 80 Minuten Spielzeit, weiß man jedenfalls, ob man selbst gerne in solch eine WG einziehen möchte - oder besser doch nicht.
Björn Gauges, 25.09.2017, Gießener Anzeiger