Wie sähe Einsamkeit wohl aus, würde man sie in eine künstlerische Form gießen? Wäre sie ein stummer Schrei auf Leinwand? Ein leises Gitarrensolo in einem Popsong? Oder die menschenleere Gasse in einem Stummfilm? In ihrer Choreografie "After / Before / Now" hat Dominque Dumais ein Bild gefunden, das die Einsamkeit geradezu brillant fokussiert: Die Bühne im Großen Haus ist in finsteres Dämmerlicht getaucht. Im Hintergrund der Rampe sitzen die Musiker vom "Eliot Quartett". Im Verbund von Licht und Musik entsteht eine morbide Atmosphäre, die Verlassenheit atmet. Eine Gruppe Tänzer steht in der Bühnenmitte und beobachtet eine Solistin aus der Distanz. Mit wuchtigen und kantigen Bewegungen bringt sie pure Emotion auf die Bühne. Sie ringt und kämpft mit ihren Gefühlen. Fast zerreißt es sie. Doch sie steht allein mit sich und ihrem Gefühlssturm und ist zum Studienobjekt reduziert.
Tanz als lyrisches Mittel
Es sind mächtige und zutiefst berührende Bilder, mit denen der Tanzabend "Lyrical" beginnt. Am Samstag hatte das dreiteilige Werk, das aus den Stücken "Clear Shadows" von Tarek Assam, "DSCH" von Moritz Ostruschnjak und Dumais Choreografie besteht, am Stadttheater Premiere. Und am Ende gab es stürmischen Applaus für die Arbeit der drei Choreografen, die in ihren Arbeiten keine Geschichten erzählen. Der Obertitel Lyrical ist im besten Sinn wörtlich zu nehmen. Denn die Künstler arbeiten tatsächlich lyrisch: Sie nehmen menschliche Seelenzustände in den Blick, Gefühle, zwischenmenschliches Miteinander und existenzielle Nöte. Was ist daran lyrisch? Wie bei Gedichten steht bei den Choreografien die gleichnishafte Form im Zentrum: Die Seelenzustände werden aber nicht in die zugespitzte Sprache von Versen, sondern in die bildhaften Ausdrucksmittel des modernen Tanzes übersetzt. Konkret gesagt setzen alle drei Choreografen auf die wichtigen Grundlagen: sowohl auf die individuellen Bewegungsrepertoires der einzelnen Tänzer, um beispielsweise Einsamkeit, Wahnsinn oder Impulsivität in Soli vor die Zuschauer zu bringen. Als auch auf die Freisetzung von emotionalen Energien in der Interaktion von Gruppenszenen. Und es gelingt den Choreografen geradezu famos, mit diesen Mitteln in die Untiefen der menschlichen Seele abzutauchen.
Dumais hat ihren Beitrag zu dem insgesamt rund eineinhalb Stunden langen Tanzabend zu Dmitri Schostakowitschs 15. Streichquartett in es-Moll aus dem Jahr 1974 geschaffen. Die designierte Ballettdirektorin des Main-Franken-Theaters Würzburg arbeitet intensiv mit dem Raum und Lichteffekten. Mal wird die Szenerie von dämmriger Morbidität bestimmt, mal von einer überhellen Weite, die Assoziationen zum Flutlicht im Fußballstadion weckt. Das Licht- und Raumkonzept trägt die tänzerische Darbietung, indem es - bildhaft gesprochen - die emotionale Umgebungstemperatur moduliert. Hut ab vor dieser Inszenierung, die sich besonders stark auf den individuellen tänzerischen Ausdruck konzentriert und den Abend mit einem ganz dicken Ausrufezeichen eröffnet.
Auch Assam taucht seine Bühne in Dunkelheit, allerdings herrscht beim heimischen Ballettdirektor in puncto Beleuchtung größere Schärfentiefe. Zudem arbeitet der Gießener formaler, schroffer und deutlich symbolhafter als Dumais. Das gilt schon für die Bühne, über der ein Klavierflügel schwebt und deren Raumstruktur etwa durch die Positionen der Tänzer viel klarer daherkommt. Die Bewegungen der Tänzer sind gelenkter, was sich darin zuspitzt, dass sie phasenweise mit einer Puppe hantieren und sie als Projektionsfläche für das eigene Fühlen und Wollen benutzen. Kurz, Assams Chorografie wirkt weit formalisierter, Gefühle erscheinen objekthafter als bei Dumais. Die Lieder aus dem "Spanischen Liederbuch" von Hugo Wolf, die Mezzosopranistin Marie Seidler und Daniel Heide am Klavier live vortragen, setzen eine Art Kontrapunkt. Sie bringen eher etwas wie sanfte Wärme auf die Rampe, sodass phasenweise ein radikaler Bruch zwischen Musik und Tanz aufklafft. Ein höchst intelligenter Effekt, der nicht nur im besten postmodernen Sinne auf das Gemachtsein von Kunst verweist. Dieser Bruch oder Kontrast lässt die Choreografie noch schroffer und formaler wirken, was man durchaus als kritischen Fingerzeig auf den alltäglichen allzu ritualisierten persönlichen Gefühlsausdruck werten kann. Respekt, Herr Assam!
Dritter im Bund ist Ostruschnjak, der sich mit dem Streichquartett Nr. 8 in c-Moll erneut Schostakowitsch zuwendet. Auf rotem Bühnenboden setzt der gebürtige Marburger stark auf die Interaktion zwischen den Tänzern, und dabei wird reichlich emotionale Energie frei. Wie Dumais orientiert sich auch Ostruschnjak an Schostakowitschs Biografie. Das Fazit: Gemeinsam haben die drei Choreografen einen berauschenden Tanzabend auf die Bühne gebracht. Das ist moderner Tanz auf beachtlichem Niveau, der richtig Laune macht. Trotz einer kurzen Umbaupause nach der ersten Choreografie bleibt es bis zum Schluss spannend.
Starkes Ensemble
Nicht zuletzt ist das den Tänzern der Tanzcompagnie Caitlin-Rae Crook, Maria Adriana Dornio, Anna Jirmanová, Gina Maag, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Clara Thierry, Michael D'Ambrosio, Marcel Casablanca Martínez, Yusuke Inoue, Sven Krautwurst, Bayarbaatar Narangerel, Lorenzo Rispolano und Antonio Spatuzzi zu verdanken, die sich erneut in bestechender Form zeigen. Musikalisch ist der Abend dank Seidler, Heide und dem Eliot Quartett mit Maryana Osipova, Alexander Sachs, Dmitry Khakhalin und Michael Preuss ein echtes Vergnügen. Bühne und Kostüme, bei denen es vor allem auf die Farbe ankommt, stammen erneut aus den bewährten Händen von Lukas Noll. Kurzum, ein Tanzabend mit Format und sicher einer der ersten Spielzeithöhepunkte. Freunden des modernen Tanzes und auch solchen, die das erst noch werden wollen, sei er wärmstens ans Herz gelegt.
Stephan Scholz, 09.10.2017, Gießener Anzeiger