Endlose Zahlenkolonnen flitzen über die Wände, und aus fortlaufenden Linien entstehen grafische Muster in Schwarzweiß, die ihre Form rasch ändern. Dazu ertönen leise elektronische Töne und Klaviermusik. Ein anderes Bild zeigt ein weltumspannendes Raumgitter, das alle Personen erfasst und einbezieht. Dann flimmern Ausschnitte alter Schwarzweißfilme über die große Rückwand der Bühne, die in kurzen Ausschnitten das Weltgeschehen von vor 90 Jahren beleuchten: Bilder von Überschwemmungen, Atlantikflügen, Machthabern und kriegerischen Auseinandersetzungen. Kommt einem alles irgendwie bekannt vor.
Zum Leben erweckt
"Hoppla, wir leben!" heißt es zur Eröffnung der neuen Spielzeit im Gießener Stadttheater. Zweieinhalb Stunden baden Augen und Ohren des Publikums in einer szenischen Fülle, in der ein alter, fast vergessener Bühnentext auf wundersame Weise zum Leben erweckt wird. Gastregisseur Thomas Krupa lädt zweieinhalb Stunden zu einer multimedialen Polit-Revue ein, die alle Sinne anspricht und die Zuschauer im besten Sinne unterhält. Trotz der vielen szenischen Zutaten steht in dieser Inszenierung jedoch erfreulicherweise die Dichtersprache deutlich im Mittelpunkt, und das prächtig aufgelegte Gießener Ensemble liefert wieder einmal einen Beweis für seine schauspielerischen Qualitäten und die Wandlungsfähigkeit seiner Mitglieder. So empfand es auch das Premierenpublikum am Samstag im vollbesetzten Haus, das den Darstellern und dem Inszenierungsteam für einen anregenden Theaterabend mit lang anhaltendem, überaus herzlichem Applaus dankte.
Piscator steht Pate
Pate bei dieser Revue steht ein Theaterabend vor genau 90 Jahren: Am 3. September 1927 eröffnete der Regisseur Erwin Piscator in Berlin sein Theater am Nollendorfplatz mit dem tragikomischen Gesellschaftspanorama "Hoppla, wir leben!" des expressionistischen Dramatikers Ernst Toller (1893 bis 1939). Damals machte Piscator mit seinem revolutionären politischen Theater Furore, indem er auf einer Etagenbühne alle Möglichkeiten der Technik mit gleich mehreren Schauplätzen, raschen Licht- und Szenenwechseln sowie Filmeinblendungen voll ausschöpfte. "Das dichterische Werk ist nur Teil neben Teilen; der Film, die Musik stehen in gleicher Funktion daneben. Diese Inszenierung erstrebt ein neues Gesamtkunstwerk. Sie erzielt jedenfalls eine ungeheure Aufpeitschung", erkannte ein damaliger Theaterkritiker.
Mit Aufpeitschung hat Krupa indes nichts im Sinn. Er möchte die angegraute Geschichte mit den Mitteln des modernen Theaters als Lehrstück über Demokratie und Populismus erzählen. Die ganze Welt ist ein Irrenhaus, und die, die darin leben, finden das ganz normal. Nur einer nicht. Auf diesen kurzen Nenner lässt sich die Handlung bringen. Ernst Toller, selbst Revolutionär in der bayerischen Räterepublik und politischer Häftling, schrieb hier ein Drama über die fehlgeschlagene Revolution. Karl Thomas im Stück ist Tollers Ebenbild. Der einstige Aktivist eines gescheiterten Volksaufstandes will nicht wahrhaben, dass sich die Welt verändert hat, als er nach acht Jahren Psychiatrie in die neugegründete Republik zurückkehrt. Auf der Suche nach seinen ehemaligen Mitstreitern irrt er durch Ministerien, Amtsstuben und Hotels und muss erkennen, dass zum Beispiel sein einstiger Zellengenosse ein geschickter Karrierist geworden ist. Während er sich im Original am Ende erhängt, schickt ihn der Regisseur der Gießener Inszenierung wieder in der Psychiatrie.
Versachlichung
In dem Stück offenbart sich Tollers dramatischer Instinkt. Sein harter Realismus hat karikierend absurde Züge, die Krupa geschickt zu mildern versteht. So vermeidet er bei den Figuren allzu grelle Überzeichnungen, damit sie so glaubhaft wie möglich erscheinen, eben wie Menschen aus Fleisch und Blut mit ihren Sorgen und Nöten. Auch der antiquierte expressionistische Aufschrei ist weitgehend von einer versachlichten Sprachweise abgelöst worden. So wirkt alles zeitgemäßer, moderner, heutiger.
Ein paar Tische und Stühle genügen, um die verschiedenen Schauplätze anzudeuten; zeitweise wird sogar an mehreren nebeneinander her gespielt. Alles Übrige besorgt die eingesetzte Videokunst (Video und Bühne: Stefano Di Buduo), die die beklemmende Atmosphäre einer Gefängniszelle genauso entstehen lässt wie die Geschäftigkeit eines Ministerbüros. Um die Wirkung der jeweiligen Szenen zu unterstreichen, steuert Christian Fries am Klavier eigene Kompositionen - mal leise und beschaulich, mal rhythmisch akzentuiert - bei. Eine sehr schöne Szene gibt es da im Zusammenspiel mit Anne-Elise Minetti, die als politische Aktivistin Eva Berg an der Schreibmaschine einen Text für ein neues Flugblatt tippt. In genau demselben Rhythmus, in dem Fries spielt, tippt und liest sie ihren Text.
Lodernde Glut
Mit gehörigem Elan und lodernder Glut verkörpert Lukas Goldbach den Revolutionär Karl Thomas, der unbeirrt immer noch an die Revolution glaubt und meint, sie müsse weitergehen. In Goldbachs Darstellung ist er ein etwas seltsamer Kauz, der auf seine Umwelt immer ein wenig aufgeregt und leicht überdreht wirkt und der sich bis zum Schluss ein großes Staunen darüber bewahrt, wie sich die Welt in den acht Jahren seiner Abwesenheit verändert hat. "Wär ich doch im Irrenhaus geblieben", schreit er seinen Ekel heraus.
Zu den Weggefährten von einst, die sich mit den überkommenen Mächten, arrangiert haben, zählt vor allem Wilhelm Kilman, der es bis zum Minister gebracht hat. Roman Kurtz verleiht ihm nicht nur Züge von Jovialität und Saturiertheit, sondern lässt auch den Realpolitiker, der den Zwängen seines Amtes unterworfen ist, ein klein wenig um Verständnis für sich werben. Den anderen Karrieristen Kroll spielt Tom Wild als einen, der leicht die Fassung verliert.
Carolin Weber stöckelt als Frau Generaldirektor durchs Geschehen, Maximilian Schmidt hält als Mörder und Feind der Revolution eine glühende Rede, Pascal Thomas gibt dem nervigen Radiomoderator Kontur, Christian Fries tritt neben seinem Klavierspiel als sonderbarer Herr Pickel (dem Alter Ego von Karl Thomas) in Erscheinung, und Frank Albrecht ist ein ebenso kerniger Graf wie Irrenarzt. Lotta Hackbeil, neu im Ensemble, muss sich mit kleineren Rollen begnügen, und Paula Schrötter, ebenfalls neu, zeigt im luftigen Partykleidchen eine herrlich komische Nummer als Model vor der Kamera.
Mit dieser Inszenierung hat das Stadttheater zu Beginn der Spielzeit voll ins Schwarze getroffen. Bravo, so kann's weitergehen!
Thomas Schmitz-Albohn, 04.09.2017, Gießener Anzeiger