China ist für uns Europäer auch im Zeitalter der Globalisierung ein fernes, rätselhaftes Land geblieben. Die Musik etwa, das Essen wie auch der Tanz, beruhen auf anderen Traditionen, folgen anderen Entwicklungen, gehorchen anderen Regeln und Gesetzen. Dennoch versucht Gießens Ballettdirektor Tarek Assam, diese zwei Kulturen einander auf der Bühne näherzubringen. Sein neues, knapp zweistündiges Stück "Cross!" feierte am Samstagabend Uraufführung im Stadttheater - und wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.
Sieben Tänzer von Assams Gießener Ensemble stehen in "Cross!" sieben Artisten, der in der südchinesischen Megametropole Shenzen beheimateten "Yate Group" gegenüber. Und so unterschiedlich Herkunft und künstlerische Sozialisation, so distanziert und konfrontativ geben sich die beiden Gruppen zunächst auch auf der Bühne. In verschiedenen Konstellationen bewegen sich die Tänzer aufeinander zu, nähern sich einander an, um schon bald wieder zurückzuweichen, Abstand zu halten, in Drohgebärden zu verharren und ihre Gegenüber lauernd zu beobachten.
Dazu hat Fred Pommerehn ein strenges Bühnenbild geschaffen, in dem den Körperkünstlern einzig große hölzerne Quadrate als Requisite dienen. Diese Gerätschaften lassen sich vielseitig verwenden. Sie schaffen Distanz, wenn sie zu Mauern errichtet werden. Sie führen die Gruppen zueinander, wenn sie gemeinsam zu Türmen aufgeschichtet werden. Sie werden zu Dominosteinen, die mal in die eine, mal in die andere Richtung kippen können. So bilden sie den Rahmen dieses Stückes, im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinn, wenn sich immer wieder einzelne Tänzer in eleganten Bewegungen hindurchwinden.
Musikalisch hat Gießens Ballettdirektor Assam das auf Tanz und Theater spezialisierte Trio "48nord" (nach "Titus Andronicus") zum zweiten Mal mit einer Auftragsarbeit vertraut. Die Münchner setzen vorrangig auf elektronische Töne, die dem Stück und den Tänzern die Richtung vorgeben. Vor allem im ersten Teil des Abends klingt das flirrend, manchmal nervös, bisweilen sogar aggressiv und nahezu schmerzhaft dissonant. Dazu verbinden die Komponisten Elemente beider Welten, setzen auf E-Gitarren oder tieftönende Bassrhythmen ebenso wie auf den Wiedererkennungswert chinesischer Lauten, Gongs oder Trommeln, die mit Samples in den Klangstrom integriert werden.
Im zweiten Teil dann wird die Musik weicher, zugänglicher - weil auch die Tänzer einander näherkommen. Und gerade das sorgt für den besonderen Reiz dieser Choreografie. Tarek Assam macht von Beginn an kenntlich, aus welch' unterschiedlichen Welten die beiden sich gegenüberstehenden Ensembles stammen. Auf der einen Seite die fließenden, immer eleganten Bewegungen seiner Tänzer, denen auch der nötige Raum gegeben wird, um sich alleine oder in Paarkonstellationen auf der Bühne zu bewegen. Bisweilen auch augenzwinkernd, wenn etwa Lorenzo Rispolano mit einem Filzhut samt Gamsbart ein Solo tanzt oder Sven Krautwurst im Tutu die Herkunft des europäischen Balletts zitiert. Auf der anderen Seite die jungen Chinesen, die das Publikum bisweilen mit spektakulärer Akrobatik beeindrucken. Sie fliegen rasend schnell mit Flic-Flacs über die Bühne, dehnen sich im Handstand im 180-Grad-Winkel oder zeigen faszinierende Gruppenfiguren, bei denen sie sich in atemberaubender, die Schwerkraft scheinbar außer Acht lassenden Weise verbiegen. Da rührte sich bei manch einem faszinierten Zuschauer spontan die Hand zum Zwischenapplaus.
Doch in Tarek Assams neuer Choreografie finden die Tänzer schließlich doch noch zueinander. Sie legen ihre Aggressivität ausstrahlenden, knallroten Anzüge und Umhänge (Kostüme: Gabriele Kortmann) ab und geben auch die drohend aufeinander gerichteten Stäbchen wie Messer und Gabeln aus den Händen. Stattdessen öffnen sie sich ihren Gegenübern und stehen schließlich nahezu nackt und ungeschützt voreinander. Hier ist zu beobachten, wie zwei Kulturen in Harmonie zusammenfinden, wenn dem Unbekannten mit Vertrauen, Offenheit und Neugier begegnet wird. Eine schöne Vision, die auf der Bühne des Stadttheaters tänzerisch formuliert wird. Der Applaus des Publikums fiel am Ende lang anhaltend, laut, teilweise auch euphorisch aus.
Björn Gauges, 05.02.2018, Gießener Anzeiger