Als die meisten Helden nach drei Stunden ihr Leben ausgehaucht hatten, brach der Jubel los: Mit lang anhaltendem Applaus und Bravorufen ist die konzertante Aufführung der Verdi-Oper "La forza del destino" (Die Macht des Schicksals) im Gießener Stadttheater vom Premierenpublikum gefeiert worden. Unter der Leitung des agil und feinnervig dirigierenden Generalmusikdirektors Michael Hofstetter ist eine dynamisch und dramatisch ausgefeilte Wiedergabe mit starken, leuchtenden Akzenten zu erleben. Das Spiel des Philharmonischen Orchesters Gießen zeichnet sich durch große Farbigkeit und innere Spannung aus. Es sind aber vor allem die ausgezeichneten Gesangssolisten und der bestens disponierte Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann), die dem gewaltigen Werk Leben einhauchen und den Opernabend zum triumphalen Erfolg führen.
Verdi läuft immer - sollte man eigentlich meinen. Bei der Premiere am Samstagabend blieben aber aus unerklärlichen Gründen etliche Plätze leer. Dabei bringt "La forza del destino" all das mit, was sich Opernliebhaber nur wünschen können: Leidenschaften, Dramatik, Melodienreichtum, Stimmungsmalerei und wunderschöne Stimmen. Im Stadttheater ist die zweite Fassung der Oper von 1869 zu hören.
Ein schicksalhafter Moment zerstört das Leben von vier Menschen für immer: Der Marchese di Calatrava (Thomas Stimmel) stirbt durch eine Kugel, die niemand abgegeben hat. Die Waffe gehört Don Alvaro, dem Geliebten seiner Tochter Leonora. Beide werden vom Vater auf der Flucht überrascht. Sekunden später nimmt das verhängnisvolle Drama seinen Lauf: Der sterbende Vater verflucht seine Tochter, Leonoras Bruder Don Carlo schwört Blutrache.
Alle Figuren sind einem übelwollenden Schicksal unterworfen, und das Schicksalsmotiv, das schon in der Ouvertüre drohend anklopft, zieht sich wie ein roter Faden in den folgenden drei Stunden durch das ganze Stück hindurch. "Das Schicksal macht Überstunden und bringt die Figuren auf höchst unwahrscheinliche Weise zusammen", bemerkte einmal treffend der britische Verdi-Kenner Andrew Porter.
Das 1862 uraufgeführte und später vom unzufriedenen Meister noch einmal grundlegend überarbeitete Werk ist berühmt-berüchtigt wegen seiner vielen Ungereimtheiten in der Handlung. In einer nicht enden wollenden Kette aus Missgeschicken wird Krieg geführt, auf Rache gesonnen, mit Messern gekämpft und auf Familienehre bis zum Tod geachtet. Durch all die Jahre machen die Figuren keinerlei Entwicklungen durch; in ihnen lodern nur emotionale Extremzustände wie Liebe, Angst, Hass und Mordlust.
Aber die Kraft der Musik, die die inneren Kämpfe der Figuren einfühlend ans Licht bringt, macht alle Schwächen wett. Verdi schuf eine großartige Belcanto-Oper mit intimen Arien, großen Duetten und eindrucksvollen Chorszenen. Die Musik besitzt Schwung, Glanz und Kraft. Das macht die Gießener Aufführung mit jedem Atemzug auf ebenso zupackende wie mitreißende Art deutlich. Der Dirigent befeuert Orchester und Ensemble, arbeitet sorgfältig die Kontraste heraus und lässt das Drama hinter der Musik spürbar werden. Die leidenschaftlich durchpulste Wiedergabe zeigt aber auch, wie reich an Stimmungen und Kolorit dieses Werk ist, für das Verdi - im Unterschied zu den meisten anderen Opern - eine große Ouvertüre geschaffen hat. Sehr wirkungsvoll ist zum Beispiel die Soloklarinette (souverän gespielt von Anna Deyhle) nicht nur in der Ouvertüre, sondern auch im Vorspiel zum dritten Akt und gleich darauf in der reizvollen Zwiesprache mit Alvaro eingesetzt.
"La forza del destino" ist vor allem eine große Gesangsoper, die es gleich mehreren Solisten ermöglicht, sich blendend in Szene zu setzen. Und darum ist sie bestens für eine konzertante Aufführung geeignet, in der die Schwächen der verwirrenden Handlung nicht weiter ins Gewicht fallen und dafür die strahlenden Stimmen umso intensiver hervortreten.
Dorothea Maria Marx hat bereits als Violetta in "La Traviata" eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie eine Verdi-Heroine mit viel Gefühl und großer Ausdruckskraft ist. Auch als Leonora gibt sie nun wieder eine beseelte Vorstellung und lässt die Zuhörer bis in die kleinste Nuance hinein an zarten lyrischen Regungen wie am schmerzerfüllten Aufruhr teilhaben. Voller Innigkeit und mit weichem, blühenden Sopran gestaltet sie ihre berühmte Arie "Pace, pace".
Ihr zur Seite reichert der italienische Sänger Angelo Villari als Alvaro mit einer ganzen Salve von Spitzentönen das Gießener Verdi-Fest an. Er hat den nötigen Schmelz in der Stimme und flutet mit seinem strahlenden, weittragenden Tenor den Saal mit stimmlichem Wohlklang. Seine große Arie im dritten Akt, die er sehr effektvoll aus der Ruhe entwickelt, und die beiden Duette mit Carlos gehören zu den Höhepunkten des Abends.
Den kanadischen Bariton Alexander Hajek hat das Gießener Publikum bereits als Germont in "La Traviata" als hervorragenden Verdi-Interpreten kennengelernt. Nun ist er als glutvoller Carlos mit von der Partie. In der konzertanten Aufführung wird aber auch deutlich, dass Hajek die Rolle des von Leidenschaften durchglühten, auf Rache sinnenden Bruders keineswegs mit Hitzköpfigkeit ausfüllt, sondern mit Bedacht und hoher Gesangskunst auf die dramatische Zuspitzung zusteuert.
Seinen mächtig tönenden, Ruhe und Geborgenheit ausstrahlenden Bass bringt Andreas Hörl als Pater Guardian eindrucksvoll zur Geltung. Sinnlich aufreizend und betörend - das ist die Mezzosopranistin Vero Miller als Wahrsagerin Preziosilla. Eine Prise Komik kommt mit Grga Peros ins Spiel, der dem leichtlebigen Volk als Fra Melitone in seiner Kapuzinerpredigt die Leviten liest. Als weitere Mitwirkende runden Sora Winkler, Matthias Ludwig und Clemens Kerschbaumer das überaus positive Gesamtbild dieser Aufführung ab.
Thomas Schmitz-Albohn, 05.03.2018, Gießener Anzeiger