Im Stadttheater Gießen zeigt der 84 Jahre alte Hans Hollmann jetzt, wie man entspannt und doch präzise mit Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Wunderwerk „Ariadne auf Naxos“ umgehen kann. Wie man sich als Regisseur den fabelhaften Umständen hingibt, ohne selbst abhanden zu kommen. Wie man manchmal österreichisch sprechen muss, um auf der Höhe des Witzes zu bleiben. Dass die Gießener Zerbinetta, wenn ihre Beaus endlich die Bühne räumen, noch murrt: „Geh ma, geh ma“: Wir werden noch in Jahren darüber lachen.
Das Theater, zu Recht als Schmuckkästchen gerühmt, ist ein denkbar geeigneter Spielort für eine sonst oft und verständlicherweise auf große Bühnen gestreute Handvoll von Figuren. Hier ist es nun so, dass man fast verlegen ist, wie nah die herumgescheuchten Leutchen des Vorspiels an das Publikum herankommen. Lukas Noll (Ausstattung) zeigt unkompliziert die grauen Kulissen eines kleinen Theaters von hinten. Der Rest ist Personenführung: Man kann dabei zuschauen, wie die Vernunft des Tanzmeisters den Musiklehrer jäh einnimmt. Wie die beiden Opernstars, die Diva und der erste Tenor – nachher das Liebespaar der Liebespaare –, eigentlich die kältesten Fische im Becken sind. Wie die Musik zugleich bereits ihre Wirkung tut, die fundamental freche Zerbinetta sich vom Komponisten enthusiasmieren lässt. Wie überhaupt jeder Moment neue Wendungen, Empfindungen, Späße und Brüche bringt, Hollmanns Regie immer flugs hinterher.
Die Wirkung wird auch dadurch verstärkt, dass die musikalische Situation der Kammerspielumgebung entspricht. Das Dirigat von Michael Hofstetter ist so delikat, dass auf der Bühne ein feiner Sprechgesang möglich wird – perfektioniert von Tomi Wendt als Musiklehrer und Clemens Kerschbaum als Tanzmeister – und ein Gegensatz zur „Musik“ entsteht. Im Vorspiel ist es in erster Linie der Komponist, der voll aussingt, die reizende, vor lauter Verträumtheit schon ganz spröde Annelie Sophie Müller.
In der Aufführung selbst muss also auf Geheiß eines reichen Mäzens (darum darf man die Kunst nicht der privaten Hand überlassen) die Oper „Ariadne auf Naxos“ mit einem Singspiel verschnitten werden. Haushofmeister Harald Pfeiffer (ein Österreicher!) vermittelt das mit der gebotenen Schamlosigkeit. In späteren Vorstellungen wird Hollmann selbst in die dankbare Sprechrolle schlüpfen.
Die Atmosphäre wechselt nun, wie es im Buche steht. Zugleich machen Noll und Hollmann deutlich, dass wir vorerst in den Regionen der Theaterkunst sind. Die drei Nymphen gondeln fantastisch kostümiert aus dem Schnürboden herab. Dorothea Maria Marx’ Ariadne ist eine würdige Erfindung des uns inzwischen so sympathischen Komponisten, aber eine Erfindung zweifellos. Diana Tomsches Zerbinetta hingegen spielt wahrlich sich selbst, umlungert von vier schmucken Herren. Ballettchef Tarek Assam sorgt dafür, dass sich in ihren Tanz Bocksprünglein mengen. Irgendwo dahinter ist die Natur. Die Natur ist ein wildes Ding.
Der Auftritt von Bacchus, Michael Siemon, unterstreicht das. Auch wenn der Einfall, Ariadne und ihn in ein andauerndes Im-Kreis-Gehen zu schicken, den göttlichen Schlussteil nicht ganz trägt, ist er doch effektvoll: Erst schreiten sie, dann hüpfen sie neckisch, dann eilen sie lachend als frohe Menschen. Womöglich ist ihr Glück größer, wenn sie sich nicht erreichen.
Die drei stark geforderten Figuren des zweiten Teils, Ariadne, Bacchus und Zerbinetta, machen ihre Sache als Sängerinnen und Sänger unangestrengt gut, auch sie getragen von der empfindsamen Orchesterarbeit.
Judith von Sternburg, 18.12.2017, Frankfurter Rundschau