Klangprächtige Aufführung des „Deutschen Requiems“ im Stadttheater / Am Sonntag Wiederholung
Herzlicher, langanhaltender Applaus nach einer bewegenden Aufführung: Wie sehr das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms (1833 bis 1897) noch immer die Herzen der Zuhörer zu rühren vermag, zeigte sich am Dienstagabend im Sinfoniekonzert im vollbesetzten Stadttheater. Unter der Leitung von Chordirektor Jan Hoffmann erklang das gewichtige Chorstück, das zu den populärsten Werken des Komponisten gehört, in einer musikalisch ausgefeilten, klangprächtigen Wiedergabe. Hoffmann dirigierte voller Elan und ließ in diesen 70 Minuten nicht nach, den 120-köpfigen Riesenchor immer wieder anzuspornen und zu einer Glanzleistung zu führen. Neben dem Chor des Gießener Konzertvereins, der 225-jähriges Bestehen feiert, sangen der Chor der Wetzlarer Singakademie und des Stadttheaters. In zuverlässig guter Form besorgte das Philharmonische Orchester Gießen das Fundament der Aufführung, die an diesem Sonntag, wie bereits berichtet, im Rahmen des Festkonzerts zum Jubiläum des Konzertvereins wiederholt wird. Beginn um 19.30 Uhr (!) im Stadttheater.
In seinem 1868 erschienenen „Deutschen Requiem“ nach den Worten der Heiligen Schrift stellte Brahms nicht die Schrecknisse des Jüngsten Gerichts, sondern den Gedanken der Tröstung in den Mittelpunkt. Neben Bildern von unheimlicher Tragik und Dramatik finden sich auch solche des Jubelns und der Zuversicht. Und die Posaune bläst bei Brahms nicht zum Jüngsten Gericht, sondern gibt das Signal der Auferstehung. „Es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend“, stellte Clara Schumann treffend fest.
Die freie Auswahl deutscher Bibeltexte macht deutlich, wie wenig der Komponist, der sich selbst in der Rolle des „bibelfesten Ketzers“ gefiel, daran interessiert war, eine liturgische Totenmesse zu schreiben: Ihm waren die Worte poetisches Gleichnis für irdisches, menschliches Sein. So kam auch in der gefühlsbetonten und von liedhafter Innigkeit getragenen Wiedergabe im Stadttheater der tiefe Ernst des Werkes allenthalben zum Vorschein. Umsichtig, präzise und zupackend agierend, hatte Hoffmann Chor und Orchester in jedem Augenblick fest im Griff.
Das Philharmonische Orchester traf die zum Teil unheimliche Atmosphäre und das dunkel-elegische Klangbild sehr genau, das, wie so oft bei Brahms, auf dem satten, warmen Streicherklang der Mittellage beruht.
Im Mittelpunkt stand jedoch der Chor, der sich stimmgewaltig und ausdrucksstark in Szene setzte. Wie schon so oft in der Vergangenheit muss man auch diesmal voller Anerkennung sagen, dass wiederum großartige Chorarbeit geleistet worden ist. Ob im Eingangschor „Selig sind, die da Leid tragen“, dem gewaltig pochenden „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, dem hoffnungsfrohen „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ oder dem abschließenden „Selig sind die Toten“ – alles wirkte wie aus einem Guss. Und gerade bei den schwierigen, polyphon gearbeiteten Stellen zeigte sich, wie sinnfällig eine Phrase aus der anderen hervorging. Nuancierte Ausdrucksfähigkeit, klare Intonation und raumfüllender Klang sprechen für die Qualität des Chores.
Überragend die beiden Gesangssolisten: Bariton Kay Stiefermann, der schon mit Stardirigenten wie Daniel Barenboim und Kirill Petrenko zusammengearbeitet hat, ließ im Solo „Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende haben muss“ die Beklommenheit und Hilflosigkeit des Menschen angesichts des Todes in prägnanter, eindringlicher Weise deutlich werden. Von seinem dramatisch gewürzten Vortrag ging eine enorme Intensität aus. Und die Sopranistin Dorothea Maria Marx, die man in Gießen bereits als seelenvolle Violetta in „La Traviata“ erleben durfte, sang „Ihr habt nun Traurigkeit“ mit fast schwebender Höhe und emotionaler Hingabe.
Thomas Schmitz-Albohn, 16.11.2017, Gießener Allgemeine Zeitung