Shakespeares „Romeo und Julia“, inszeniert als politisches Konfliktstück am Stadttheater Gießen.
Auch die Veroneser Gesellschaft ist tief gespalten, die uniformen Radlermonturen des Volkes können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Männer und Frauen einander antagonistisch gegenüberstehen, dass die Grünen und die in Altrosa sich gegenseitig hassen, und irgendwo soll es fremde Eindringlinge geben, denen man die Schuld – woran auch immer – zuschieben könnte. Die Grünen, die Capulets, sind alle weiblich. Die männlichen Montagues haben zunächst das Sagen, während Benvolio und Mercutio Verona zusammen mit Romeo zum Schauplatz einer Art Junggesellenabschied machen.
Katrin Hentschels Inszenierung im Stadttheater Gießen nimmt Shakespeares „Romeo und Julia“ nicht als die notorische Tragödie der Liebe in einer Gesellschaft voller Hass, sondern als Konfliktstück. Sie hat darum Thomas Braschs Übertragung gewählt, was sich als ausgezeichnete Wahl erweist. Brasch findet, stets nahe am Original, sinnliche und witzig-intelligente sprachliche Lösungen für all die Wortspiele und frühneuzeitlichen Zoten und Mehrfachbedeutungen, über die etwa die gute alte Schlegel/Tieck-Übertragung diskret oder ratlos, aber wohlklingend hinweggegangen ist.
Manchmal übertreiben Mercutio (Stephan Hirschpointer) und Benvolio (Pascal Thomas) ein wenig bei der gestischen Deutung zotiger Wendungen, aber das kann auch mit der epischen Ausrichtung der Inszenierung zusammenhängen. Julia (Esra Schreier) ist eine intensiv empfindende Dreizehnjährige, Romeo (Magnus Pflüger) ein zwanghaft romantisch fühlender Jüngling, der zynische Tybald eine Art Kehrseite der aufgeregten Amme (beide: Paula Schrötter), Frau Capulet (Carolin Weber) eine herrische Mutter und Vater Montague (Roman Kurtz) ein mütterlich zugewandter Vater.
Manches spielt sich vorm Vorhang ab, dahinter kommt als Bühnenbild (Jósef Halldórsson) eine frei schwebende Balkon-Gondel, dann ein kahler, fruchtloser Kletterbaum der Erkenntnis ins Spiel. Die Inszenierung demonstriert die Ausweglosigkeit der dramatischen Konstellation. Alle sind Opfer von Entscheidungen, deren Urheber niemand mehr kennt und die jeder daher für natürlich hält. Getötet wird aus alternativlosem Racheprinzip und im Sinne einer Gerechtigkeit, die höher sein will als alle Vernunft und Humanität; gestorben wird, weil das Schicksal es so will.
Die resignierte politische Haltung der Inszenierung wird verstärkt durch einen etwas umgetopft wirkenden Rekurs auf die Shakespeare zugeschriebene Thomas-Morus-Rede, die als theatraler Versuch gegen den in England seinerzeit grassierenden Hass auf die ins Land geflüchteten Hugenotten entstand und keinerlei politische Wirkung entfalten konnte. Immerhin zeigt die Inszenierung unter anderem, dass schon im Theater des 16. Jahrhunderts eine gesellschaftliche Konfliktsituation klar verarbeitet wurde, ohne dass sich bis ins 21. Jahrhundert an deren Konstellationen etwas geändert hätte. Der Vorhang zu, und entscheidende Fragen offen – wäre da nicht die intensive Nachwirkung von Thomas Braschs Shakespeare-Nachdichtung, die ohne modische Attitüde in der Gegenwart zu Hause ist und die vergangenen Zeiten lebendig hält.
Hans-Jürgen Linke, 23.11.2018, Frankfurter Rundschau