Verbrecherballade „Johnny Breitwieser“ im Großen Haus / Wenig überraschendes, aber homogenes Ensemble überzeugt
Eine Geschichte zwischen Wahrheit und Legende: Johann Breitwieser (1891-1919) gelangte in seiner Heimatstadt Wien zu zweifelhaftem Ruhm, weil er als gewitzter Einbrecher und charismatischer Nachfahre von Robin Hood galt, der der verhassten Obrigkeit immer wieder eine lange Nase dreht. Im Stadttheater Gießen feierte das Stück „Johnny Breitwieser“ von Thomas Arzt nun seine Premiere: in düsteren Farben, mit Streichermusik, Liedern sowie kleinen Choreographien angereichert – und ohne jede Aussicht auf ein Happy End.
Premierenaufführung
Da hätten sich Johnny Breitwieser und seine Gang wohl sehr gewundert: Knapp 100 Jahre, nachdem das allzu kurze Leben des Verbrecherkönigs aus der Wiener Vorstadt von der Polizei beendet wurde, verlieh der „Economist“ der österreichischen Metropole vor wenigen Tagen den Titel als lebenswerteste Stadt der Welt. In der Inszenierung von Malte C. Lachmann sieht das auf der Bühne des Stadttheaters Gießen jedenfalls ganz anders aus. Die sonst häufig so prächtig geschilderte Donaumetropole des Fin du Siècle, das Wien Sigmund Freuds, Gustav Klimts und Stefan Zweigs, besteht hier alleine aus aufgeschichteten grauen Asphaltplatten und Betonresten, als ob bei einem Bombenangriff gerade ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt worden seien.
Beschädigte Figuren
Doch es ist nicht nur die Stadt, die in diesem Stück in Trümmern liegt. Auch die Figuren der in deutscher Erstaufführung gezeigten Verbrecherballade sind nahezu allesamt beschädigt – am Körper wie am Geist. Regisseur Lachmann und Udo Herbster (Bühne und Kostüme) machen das bis zur Überdeutlichkeit kenntlich. Die Proletarier dieser Vorstadthölle tragen zerschlissene Lumpen, laufen barfuß oder haben, wie die furchtbar anzuschauende Bettlerin Luise (Paula Schrötter), sogar ein deformiertes Bein und ein zugewachsenes Auge. Verdreckte Gesichter und verfaulte Zähne gehören ebenfalls zum Erscheinungsbild dieser Menschen (Anna-Elise Minetti, Stephan Hirschpointner, David Moorbach). Es sind verhärmte Elendsgestalten, die direkt aus den schaurigen Leinwandwelten von George Grosz oder Otto Dix entsprungen scheinen.
Eine Ausnahme gibt es allerdings: den charismatischen, titelgebenden Johnny. Lukas Goldbach verleiht dem Ganoven eine angenehm ambivalente Gestalt: als attraktiver, cleverer Vorstadtstrizzi, dem nicht nur die Frauen seines Unterschichtsmilieus, sondern sogar die gelangweilten Damen aus gutem Hause (Johanna Malecki) nachrennen.
Tragischer Held
So erinnert der häufig eine Kippe auf der Unterlippe balancierende Schauspieler ein wenig an den einst von Jean-Paul Belmondo verkörperten Kleingangster in „Außer Atem“. Zu sehen ist ein tragischer Held, dem man ob seiner sanften Melancholie auch die immer wieder eruptiv ausbrechenden Gewaltmomente umgehend verzeihen mag. Mit einer Ausnahme: dem Polizisten Schödl (Tom Wild), dem bei seiner Jagd einst von Johnny eine Hand kaputtgeschossen wurde. Nun sinnt der Krüppel wutverzerrt auf Rache. Noch so eine versehrte Elendsgestalt in diesem Bühnenkosmos – wenn auch um einiges besser angezogen.
Vieles in dieser Inszenierung erinnert an Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“. Nicht nur die Zeit der Handlung und das porträtierte Gesellschaftsmilieu, bei dem angesichts des offensichtlichen Staatsversagens zwangsläufig das Fressen vor der Moral kommt. Auch die musikalische Begleitung funktioniert wie die von Kurt Weill komponierten Moritate, die von Johnnys Berufskollegen Mackie Messer erzählen. Auf der Stadttheaterbühne ist es ein um ein Schlagzeug angereichertes Streichquartett, das die einzelnen Szenen instrumental begleitet und überzeugend bereichert, den Rhythmus der Erzählung strukturiert und auch die Klänge für die von den Schauspielern vorgetragenen Lieder beisteuert (musikalische Leitung: Martin Spahr). Die von Dramatiker Thomas Arzt gewählte, leicht österreichisch eingefärbte Kunstsprache macht weitere Anleihen deutlich – gebrochen durch ein paar lapidar-heutige „Sorry“ oder das etwas zu inflationär gebrauchte „Scheiße“.
Überraschungen bleiben aus
So bleiben nach zweieinhalb Stunden die großen Überraschungsmomente aus, wenngleich das homogene Ensemble ebenso überzeugt, wie manche griffige Formulierung („Die Armut ist da, wo der Kampf aufhört“). Dass vielleicht noch etwas mehr drin gewesen wäre in dieser Inszenierung, zeigt eine Szene, in der die Grenze zwischen Bühne und Publikum plötzlich für kurze Zeit aufgehoben wird. Da zwängen sich Johnny und seine heruntergekommenen Begleiter plötzlich bei hellem Saallicht durch die Zuschauerreihen, weil sie sich auf einer Party eingeladen wähnen. Und es ist zu spüren: Zwischen diesen Elendsgestalten und dem Theaterpublikum besteht eine Distanz, die viel größer ist als ein Bühnengraben. Wer nun aktuelle Bezüge in diesem Stück sucht – hier werden sie von den Saalscheinwerfern einen Moment lang unangenehm grell angestrahlt.
Björn Gauges, 03.09.2018, Gießener Anzeiger