Schauspielpremiere: „Capitalista, Baby!“ erzählt im Stadttheater von einem radikalen Einzelgänger und einem Phänomen unserer Zeit
Ayn Rand (1905 – 1982) ist eine hierzulande weitgehend unbekannte Schriftstellerin und Philosophin, während ihre Bücher in den USA hohe Millionenauflagen erreichten und sich viele Prominente als Fans zu erkennen geben – von Ex-Notenbankchef Alan Greenspan über Schauspielerin Sandra Bullock und Wikipedia-Erfinder Jimmy Wales bis hin zu Präsident Donald Trump. Um dem Denken dieser einflussreichen Frau näherzukommen, nahmen sich die beiden Theatermacher Tom Kühnel und Jürgen Kuttner ihres Bestsellerromans „The Fountainhead“ an und destillierten daraus eine 2011 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführte Version unter dem Titel „Capitalista, Baby!“, die nun vom Gießener Stadttheater adaptiert wurde und am Sonntagabend Premiere im Großen Haus feierte. Es geht um Idealismus, Freiheit, Egoismus – und um den sich zuspitzenden Kampf zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft.
Cool gegen peinlich
Hier sind die Rollen – zunächst – klar verteilt. Auf der einen Seite der junge Architekt Howard Roark (Lukas Goldbach), der mit seinen neuartigen Ideen und Entwürfen aneckt und sich nicht darum schert, wenn er ohne Abschluss und berufliche Perspektive von der Universität geschmissen wird. Daneben Peter Keating (Pascal Thomas), sein mittelmäßiger, von der Kreativität Roarks profitierender Kommilitone, der allein mit Schmeichelei und Opportunismus den Weg in ein angesehenes Architekturbüro findet. Hauptdarsteller Lukas Goldbach gibt seiner Figur einen lässigen Anstrich, zeigt einen selbstsicheren Typen, der sich seiner besonderen Gabe überaus bewusst ist und gesellschaftliche Konventionen cool ignoriert. Pascal Thomas hingegen macht dessen Gegenüber zu einer larmoyanten Witzfigur, die trotz ihrer Infantilität und beruflichen Unfähigkeit die Karriereleiter unaufhaltsam nach oben klettert (und ihre lächerlich bunte Kleidung dennoch nie wechselt).
Es ist der Ausgangspunkt eines Dramas, aus dem die erstmals in Gießen inszenierende Regisseurin Katharina Ramser ihr rund zweieinhalbstündiges Stück formt. Dabei erweist sich „Capitalista, Baby!“ als stringentes, temporeiches Schauspiel, das weitgehend ohne Längen auskommt und gleichzeitig einen aktuellen Kommentar zur Entwicklung der Gesellschaften in der westlichen Welt liefert. Zum Gelingen dieses Unterfangens trägt die originelle inszenatorische Idee bei, Zeichnungen des Schweizer Künstlers Christoph N. Fuhrer in ihrer Entstehung auf eine Leinwand in der Bühnenmitte zu werfen, in denen die unterschiedlichen Entwürfe der beiden Architekten skizzenhaft aufscheinen. Vor allem aber hat Bühnenbildner Michael Böhler als zentrale Kulisse ein mehrstöckiges Haus konstruiert, auf dem sich immer wieder neue Perspektiven und reizvolle Bilder ergeben sowie gleichzeitig die wechselseitigen Hierarchien zwischen den einzelnen Figuren gespiegelt werden.
Zu dieser Gesellschaft zählen etwa ein mit Howard Roarks im Clinch liegender Architekturkritiker (Tom Wild), ein skrupelloser Zeitungsmagnat (Roman Kurtz) und allerlei stromlinienförmige Randfiguren (Stephan Hirschpointner). Allein die so attraktive wie kluge Dominique (Anne-Elise Minetti) kann dem genialischen Einzelgänger zumindest zeitweise das Wasser reichen, weil auch sie alles Mittelmaß verachtet und sich deshalb bewusst ins Abseits stellt, bis sie Roarks verfällt – was in einem minutenlangen, glänzend choreographierten Ringkampf endet, bei dem der Egomane natürlich am Ende oben liegt.
Es ist also naheliegend, sich als Zuschauer auf die Seite des jungen Außenseiters zu schlagen, der eine klare Haltung, einen klaren Kompass besitzt, und nicht bereit ist, seine innere Freiheit für schale Kompromisse aufzugeben. So spielt das Ensemble in diesem Stück gegen einfache und allzu bequeme Gewissheiten seines Publikums an. Ist es nicht tatsächlich so, dass die ewigen Bedenkenträger, Opportunisten, „Schmarotzer“, wie sie Ayn Rand in brutaler Schärfe nannte, die Verwirklichung wirklich großer Ideen verhindern? Ist die ewige Suche nach Kompromissen, nach Ausgleich der Interessen nicht ein leidiger Bremsklotz für den Fortschritt?
In seinem filmischen Meisterwerk „Taxi Driver“ ließ Regisseur Martin Scorsese in den späten 70er Jahren einen Einzelgänger namens Travis Bickle nachts durch die düsteren Häuserschluchten Manhattans rollen. Es war ein Mann, der abseits stand, der die Gesellschaft mit zutiefst skeptischem Blick beobachtete und schließlich in eine pathologische Gedankenwelt abdriftete. Nun schneidet sich dieser in Gießen auftretende Howard Roarks keinen Irokesenkampfschnitt und deckt sich auch nicht mit Waffen ein. Dennoch zeigt Lukas Goldbach seine Figur als einen Bruder des Taxi Drivers im Geiste. Irgendwann wird einem unheimlich zumute, angesichts dieser schier erbarmungslosen Kompromisslosigkeit, mit dem der Mann seine Bauwerke verteidigt. Zumal man sich anhand der die Szenerie illustrierenden Zeichnungen von Christoph N. Fuhrer plötzlich gut vorstellen kann, wie irgendwann in den 60er, 70er Jahren plötzlich monumentale Betonklötze in die Innenstädte gesetzt wurden – entsprungen der Gigantomanie Einzelner, die sich mit vermeintlichen Banalitäten wie einem sozialen Gemeinwesen nicht lange aufhalten mussten.
Entscheidung gefragt
Doch die Tragweite dieses Stücks ist noch weit größer: Roark schlägt den Pfad in eine Gedankenwelt ein, die in den USA zu monströsen Auswüchsen geführt hat. Zur Tea-Party-Bewegung, zum fanatischen Kampf gegen eine Krankenversicherung, zu militantem Hass auf Staat und Gesellschaft. Lohnend wird das in Gießen gezeigte Stück vor allem deshalb, weil sich irgendwann innerhalb dieser zweieinhalb Stunden Spielzeit jeder einzelne Zuschauer entscheiden muss, an welcher gedanklichen Wendung er Roarks Pfad verlassen will. Im Zweifel ist es immer eine Wendung zu spät.
Björn Gauges, 15.01.2019, Gießener Anzeiger