Fantasievoll-überzeugender Geschlechterkampf: Premiere von William Shakespeares Liebesdrama „Romeo und Julia“ im Stadttheater
Die Kampfzone zwischen Frauen und Männern scheint sich in den vergangenen rund 400 Jahren nur unwesentlich verkleinert zu haben. Weltweite Gerechtigkeits-, Gender- und #meetoo-Debatten zeugen gerade wieder davon, welch dauerhafte Aktualität das Thema besitzt. Wie (bedenklich) es um das Verhältnis der Geschlechter steht, damit befasst sich auch Gastregisseurin Katrin Hentschel in ihrer Version von William Shakespeares 1597 veröffentlichtem Drama „Romeo und Julia“. Zu erleben waren bei der Premiere am Samstagabend im Gießener Stadttheater ein überzeugendes Ensemble, eine fantasievoll-surreale Bühnenlandschaft und rasante Wortduelle, wenngleich nicht alle dramaturgischen Ideen auch ins Schwarze trafen.
Lokale Bezüge
Entscheidend ist bei diesem berühmtesten alles Liebesdramen nicht das Was, sondern das Wie. Schließlich ist wohl jeder schon einmal mit irgendeiner Bearbeitung des Stoffes in Berührung gekommen, ob klassische Version am Veroneser Balkon, ob Leonard Bernsteins New Yorker Musical-Variante namens „West Side Story“, ob überdrehtes Kinospektakel „Romeo + Juliet“ mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes oder zuletzt die eher brave Version aus dem Neureichen- und Proll-Milieu bei den Wetzlarer Festspielen 2017.
Die erstmals am Stadttheater arbeitende Regisseurin Hentschel hat sich für eine Variante in einem abstrakten Raum mit lokalen Bezügen entschieden, für die sie eigenes einen Chor aus Gießener Laiendarstellern zusammengestellt hat. Diese drei Frauen und neun Männer tragen zwar einheitliche Radlerklamotten, sind aber alles andere als einer Meinung – womit der Ton des Abends gesetzt ist. Vor allem die Herren geben sich gleich zu Beginn des Stücks als Gift und Galle spuckende Kampfradler zu erkennen, die ihre Mitbürgerinnen verspotten und ausgrenzen. Solchen Wutbürgern möchte man wahrlich nicht auf Gießens Straßen begegnen.
Die dabei entstehende Trennlinie zwischen Mann und Frau zieht Katrin Hentschel dann gleich noch einmal, wenn sie die berühmten Familien der Capulets und Montagues aufmarschieren lässt. Die sind schon anhand ihrer Kleidung (originelle Kostüme: Michaela Barth) dem jeweiligen Lager zuzuordnen. Auf der einen Seite Julias ausschließlich weibliche Familie in opulenter grüner Robe, auf der anderen Seite Romeos Männer-Gang, die in roten ärmellosen Anzügen steckt. Mercutio (Stephan Hirschpointner) und Benvolio (Pascal Thomas) erinnern mit ihrem aus den Sakkos quellendem Brusthaar, den Schlaghosen und den roten Stiefeln dabei ein wenig an den „Led-Zeppelin“-Rocksänger Robert Plant in den frühen 70ern. Ihre langen Mähnen zeugen von einer unangenehm aufdringlichen Virilität. Diese animalische Triebhaftigkeit wollen diese hüftschwingenden Macker kaum im Zaum halten, „Pussy Grabber“ ist ein noch recht junges Stichwort, das einem dabei sofort in den Sinn kommt. Zu diesen Figuren passt die griffige, zeitgemäße und mit sexuellen Anspielungen gespickte Übersetzung der Shakespeare-Vorlage, die der Schriftsteller Thomas Brasch Anfang der 1990er Jahre geschaffen hat.
Ihnen gegenüber steht ein weiblicher, giftgrüner und vom Hass zerfressener Tybalt (Paula Schrötter), die zeigt: Auch Frauen können richtig fies sein. Das ebenfalls schwere Stiefel tragende Familienoberhaupt Capulet (Carolin Weber) dagegen hinterlässt dagegen zumindest einen etwas rationaleren, weniger hochfahrenden Eindruck und hält die Familienfehde (zumindest lange Zeit) unter Kontrolle.
Dazwischen das Liebespaar, Turnschuhe tragend und auch geistig beweglicher als alle anderen, aber gleichzeitig auf fatale Weise eingeklemmt zwischen den familiären Rivalitäten. Als echte Entdeckung erweist sich dabei Esra Schreier, ein Neuzugang im Gießener Ensemble. Sie verkörpert auf subtile Weise eine Julia zwischen jugendlicher Unschuld und erwachender Renitenz, zwischen blinder Leidenschaft und wachem Geist. Das Leben ist für dieses freche Gör an der Schwelle zum Erwachsenwerden noch ein einziges Versprechen. Und wenn das nicht eingelöst wird, darf man sich durchaus auch vor Wut auf den Boden schmeißen und mit den Fäusten trommeln, wie ein Kleinkind an der Supermarktkasse. Julia ist (laut Vorlage) schließlich erst 13 Jahre alt.
Famose Julia
An ihrer Seite Magnus Pflüger, der einen verträumten, manchmal auch arg verpeilten Romeo abgibt, wenn er da ungläubig vom Bühnenrand in die Weltgeschichte staunt. Er ist ein Typ, der Konfrontationen gerne aus dem Weg geht und seine Haare vermutlich nur deshalb lang trägt, weil es alle andern auch so machen. Und damit etwas zu sehr Schlaffi, um ein Temperamentsbündel wie Julia glaubhaft für sich einzunehmen. Vor allem aber ist er viel zu lieb und sanft, um tatsächlich in einem kurzen Anflug von Raserei den für die Tragödie entscheidenden Mord zu begehen.
Doch bevor es soweit ist, darf man sich an einem Theaterraum erfreuen, der dem naiven jungen Paar viel Raum zum Fantasieren von der ewigen Liebe lässt. Dazu hat Bühnenbildner Jósef Halldórsson Julia eine Art Kokon gebaut, der meist ein wenig über den Boden schwebt und sich damit ideal für ihre romantische Weltflucht eignet. Romeo hingegen steigt immer wieder auf einen mächtigen Baum (der Erkenntnis?) hinauf, wenn er seinen Beichtvater Lorenzo zu Rate zieht. Darsteller Roman Kurtz verleiht diesem Mönch souverän Kontur: ein echter Kerl mit schwerem Umhang, grauer Mähne und genug Lebenserfahrung, um die sich anbahnenden Gefahren zu wittern.
Und dann ist da noch die Gesangsszene, einer der Höhepunkte des Abends. Da schwebt Julia in einem quietschgrünen runden Plüschball in luftiger Höhe über die Bühne, während sie eine schöne Ballade (Musik: Thomas Seher) zum Besten gibt und es weiße Schnipsel regnet. Hier schlägt Ironie den Kitsch – bevor es dann umgehend richtig ernst wird.
So schnurrt diese Inszenierung ebenso tempo- wie facettenreich auf ihr dramatisches Finale zu, wenn bis dahin auch nicht alle inszenatorischen Ideen Funken schlagen. Ein vom Radler-Chor gesprochener Text („Die Fremden“) wirkt mit seinem Räsonieren über Flüchtlinge und das Mittelmeerdrama dieser Tage wie ein allzu willkürlich hinzugefügter Fremdkörper. Dafür spart Regisseurin Hentschel am Ende Zeit und Raum bei der Sterbeszene, wenn sie schließlich alle Schauspieler das Finale ein wenig nüchtern an der Rampe sprechen lässt.
Aber, und das überwiegt in dieser Inszenierung bei Weitem: Sie findet eine eigene Form für den Shakespeare-Klassiker, der dem Publikum ausreichend Raum für überraschende Entdeckungen gibt. So wird hier – wer hätte das gedacht? – die Capulet zur spannendsten Figur des Abends, wenn sie schließlich die adrette Maske fallen lässt. In dieser zunächst so beherrschten Patriarchin steckt ein wahres Muttermonster, das, wie Carolin Weber eindrucksvoll zeigt, allein am eigenen Schicksal interessiert ist – und einen damit wahrlich das Fürchten lehren kann.
Mutter als Monster
Den wohl wichtigsten Satz des Abends steuert aber Roman Kurtz bei, der dem jugendlichen Schwärmer als Mönch vergeblich zu „Maß und Mitte“ auch in der Liebe rät und damit dafür sorgt, dass sich auch nach diesen rund zweieinhalb intensiven Theaterstunden noch einmal über den vermeintlich so bekannten Dramastoff nachzudenken lohnt. Ist es nicht am Ende so, dass dieses im Liebeswahn taumelnde Paar sein trauriges Schicksal durchaus selbst zu verantworten hat? Diese Frage darf, soll und muss sich jeder Zuschauer selbst beantworten.
Björn Gauges, 19.11.2018, Gießener Anzeiger